Xella Magyarország Építőanyagipari Kft. v Innovációs és Technológiai Miniszter.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2023:568
Date13 July 2023
Docket NumberC-106/22
Celex Number62022CJ0106
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

13. Juli 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Freier Kapitalverkehr – Niederlassungsfreiheit – Verordnung (EU) 2019/452 – Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, die einen Überprüfungsmechanismus für ausländische Investitionen in als ‚strategisch‘ eingestufte gebietsansässige Unternehmen regeln – Auf der Grundlage dieser Rechtsvorschriften getroffene Entscheidung, mit der einer gebietsansässigen Gesellschaft der Erwerb sämtlicher Anteile an einer anderen gebietsansässigen Gesellschaft verboten wird – Erworbenes Unternehmen, das als ‚strategisch‘ angesehen wird, weil seine Haupttätigkeit den Abbau bestimmter Grundrohstoffe wie Kies, Sand und Ton betrifft – Erwerbendes Unternehmen, das als ‚ausländischer Investor‘ angesehen wird, weil es zu einer Gruppe von Gesellschaften gehört, deren Dachgesellschaft ihren Sitz in einem Drittstaat hat – Beeinträchtigung oder drohende Beeinträchtigung eines Interesses des Staates, der öffentlichen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung des Mitgliedstaats – Ziel der Gewährleistung der Sicherheit der Versorgung mit Grundrohstoffen zugunsten des Bausektors, insbesondere auf regionaler Ebene“

In der Rechtssache C‑106/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn) mit Entscheidung vom 1. Februar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Februar 2022, in dem Verfahren

Xella Magyarország Építőanyagipari Kft.

gegen

Innovációs és Technológiai Miniszter,

Beteiligte:

„JANES ÉS TÁRSA“ Szállítmányozó, Kereskedelmi és Vendéglátó Kft.,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), der Richterin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter F. Biltgen, N. Wahl und J. Passer,

Generalanwältin: T. Ćapeta,

Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. Dezember 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der Xella Magyarország Építőanyagipari Kft., vertreten durch T. Kocsis, Ügyvéd,

– der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und K. Szíjjártó als Bevollmächtigte,

– der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Gentili, Avvocato dello Stato,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Conte, M. Mataija, G. von Rintelen und A. Tokár als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 30. März 2023

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 65 Abs. 1 Buchst. b AEUV in Verbindung mit den Erwägungsgründen 4 und 6 der Verordnung (EU) 2019/452 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. März 2019 zur Schaffung eines Rahmens für die Überprüfung ausländischer Direktinvestitionen in der Union (ABl. 2019, L 79 I, S. 1) sowie mit Art. 4 Abs. 2 EUV.

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Xella Magyarország Építőanyagipari Kft. (im Folgenden: Xella Magyarország), einer Gesellschaft ungarischen Rechts, und dem Innovációs és Technológiai Miniszter (Minister für Innovation und Technologie, Ungarn, im Folgenden: Minister) wegen eines Bescheids, mit dem dieser den Erwerb sämtlicher Anteile an der „JANES ÉS TÁRSA“ Szállítmányozó, Kereskedelmi és Vendéglátó Kft. (im Folgenden: Janes és Társa), einer anderen Gesellschaft ungarischen Rechts, die als „strategisch“ im Sinne der nationalen Rechtsvorschriften über die Einführung eines Überprüfungsmechanismus für ausländische Investitionen angesehen wird, untersagt hat.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3 In den Erwägungsgründen 4, 6, 10, 13 und 36 der Verordnung 2019/452 heißt es:

„(4) Diese Verordnung berührt nicht das Recht der Mitgliedstaaten, vom freien Kapitalverkehr abzuweichen, wie es in Artikel 65 Absatz 1 Buchstabe b AEUV vorgesehen ist. Mehrere Mitgliedstaaten haben Maßnahmen eingeführt, mit denen sie einen solchen Verkehr aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit beschränken können. …

(6) Ausländische Direktinvestitionen fallen in den Bereich der gemeinsamen Handelspolitik. Gemäß Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe e AEUV hat die Union in der gemeinsamen Handelspolitik die ausschließliche Zuständigkeit.

(10) Die Mitgliedstaaten, die über einen Überprüfungsmechanismus verfügen, sollten unter Wahrung des Unionsrechts die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um eine Umgehung ihrer Überprüfungsmechanismen und ‑beschlüsse zu verhindern. Das sollte Investitionen aus der Union umfassen, die über künstliche Vereinbarungen vorgenommen werden, die die wirtschaftlichen Gegebenheiten nicht widerspiegeln und die Überprüfungsmechanismen und ‑beschlüsse umgehen, wenn der Investor tatsächlich im Eigentum oder unter der Kontrolle einer natürlichen Person oder eines Unternehmens aus einem Drittstaat steht. Die im AEUV verankerte Niederlassungsfreiheit und der freie Kapitalverkehr bleiben davon unberührt.

(13) Bei der Ermittlung, ob eine ausländische Direktinvestition möglicherweise die Sicherheit oder die öffentliche Ordnung beeinträchtigt, sollten die Mitgliedstaaten und die Kommission alle einschlägigen Faktoren berücksichtigen können, einschließlich der Auswirkungen auf kritische Infrastrukturen, Technologien, insbesondere Schlüsseltechnologien, und für die Sicherheit oder die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung grundlegende Ressourcen, deren Störung, Ausfall, Verlust oder Vernichtung beträchtliche Folgen in einem Mitgliedstaat oder der Union hätte. In dieser Hinsicht sollten die Mitgliedstaaten und die Kommission ferner in der Lage sein, den Kontext und die Umstände der ausländischen Direktinvestition zu berücksichtigen, insbesondere ob ein ausländischer Investor direkt oder indirekt – zum Beispiel in Form beträchtlicher Finanzausstattung, einschließlich Subventionen – von der Regierung eines Drittstaats kontrolliert wird oder ob er staatlich gelenkte Auslandsinvestitionsprojekte oder ‑programme durchführt.

(36) Stellt eine ausländische Direktinvestition einen Zusammenschluss dar, der in den Geltungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates [vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (ABl. 2004, L 24, S. 1)] fällt, so sollte die vorliegende Verordnung unbeschadet der Anwendung des Artikels 21 Absatz 4 der Verordnung … Nr. 139/2004 angewandt werden. …“

4 Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) Abs. 1 der Verordnung 2019/452 bestimmt:

„Mit dieser Verordnung wird ein Rahmen geschaffen für die Überprüfung ausländischer Direktinvestitionen in der Union durch die Mitgliedstaaten aus Gründen der Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung …“

5 In Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) dieser Verordnung heißt es:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

1. ‚ausländische Direktinvestition‘ eine durch einen ausländischen Investor getätigte Investition jeder Art zur Schaffung oder Aufrechterhaltung dauerhafter und direkter Beziehungen zwischen dem ausländischen Investor und dem Unternehmer oder Unternehmen, für den bzw. das das Kapital zur fortgesetzten Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit in einem Mitgliedstaat bereitgestellt wird, einschließlich Investitionen, die eine effektive Beteiligung an der Verwaltung oder Kontrolle eines Unternehmens ermöglichen, das eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt;

2. ‚ausländischer Investor‘ eine natürliche Person aus einem Drittstaat oder ein Unternehmen aus einem Drittstaat, die bzw. das eine ausländische Direktinvestition plant oder getätigt hat;

4. ‚Überprüfungsmechanismus‘ ein allgemein anwendbares Rechtsinstrument, beispielsweise ein Gesetz oder eine Vorschrift, und die damit zusammenhängenden verwaltungstechnischen Anforderungen, Durchführungsvorschriften oder ‑anleitungen, mit denen die Bestimmungen, Bedingungen und Verfahren für die Prüfung, Untersuchung, Genehmigung, Knüpfung an Bedingungen, Untersagung oder Rückabwicklung ausländischer Direktinvestitionen aus Gründen der Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung festgelegt werden;

7. ‚Unternehmen aus einem Drittstaat‘ ein nach dem Recht eines Drittstaates gegründetes oder anderweitig errichtetes Unternehmen.“

6 Art. 3 („Überprüfungsmechanismen der Mitgliedstaaten“) Abs. 6 dieser Verordnung lautet:

„Die Mitgliedstaaten, die bereits über einen Überprüfungsmechanismus verfügen, sorgen für die Aufrechterhaltung, Änderung oder Ergreifung von Maßnahmen, die zur Erkennung und Verhinderung der Umgehung der Überprüfungsmechanismen und ‑beschlüsse erforderlich sind.“

7 Art. 4 („Faktoren, die von den Mitgliedstaaten oder der Kommission berücksichtigt werden können“) der Verordnung sieht vor:

„(1) Bei der Feststellung, ob eine ausländische Direktinvestition die Sicherheit oder die öffentliche Ordnung voraussichtlich beeinträchtigt, können die Mitgliedstaaten und die Kommission ihre potenziellen Auswirkungen unter anderem auf folgende Aspekte berücksichtigen:

c) die Versorgung mit kritischen Ressourcen, einschließlich Energie oder Rohstoffen, sowie die Nahrungsmittelsicherheit;

(2) Bei der Feststellung, ob eine ausländische Direktinvestition die Sicherheit oder die öffentliche Ordnung voraussichtlich beeinträchtigt, können die Mitgliedstaaten und die Kommission insbesondere auch berücksichtigen,

a) ob der ausländische Investor direkt oder indirekt von der Regierung, einschließlich staatlicher Stellen oder der Streitkräfte, eines Drittstaats, unter anderem aufgrund der Eigentümerstruktur oder in Form beträchtlicher Finanzausstattung, kontrolliert wird,

…“

8 Art. 6 („Kooperationsmechanismus im Zusammenhang mit ausländischen Direktinvestitionen, die einer Überprüfung unterzogen werden“) Abs. 1 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission und den übrigen Mitgliedstaaten alle ausländischen Direktinvestitionen in ihrem Hoheitsgebiet mit, die einer Überprüfung unterzogen werden, indem sie die in Artikel 9 Absatz 2 dieser Verordnung...

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