Urteile nº T-188/12 of TGericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften, February 27, 2015

Resolution DateFebruary 27, 2015
Issuing OrganizationTGericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften
Decision NumberT-188/12

„Zugang zu Dokumenten - Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 - Schriftsätze der Republik Österreich in einem Vertragsverletzungsverfahren vor dem Gerichtshof - Verweigerung des Zugangs“

In der Rechtssache T-188/12

Patrick Breyer, wohnhaft in Wald-Michelbach (Deutschland), Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt M. Starostik,

Kläger,

unterstützt durch

Republik Finnland, vertreten durch J. Heliskoski und S. Hartikainen als Bevollmächtigte,

und durch

Königreich Schweden, zunächst vertreten durch A. Falk, C. Meyer-Seitz, C. Stege, S. Johannesson, U. Persson, K. Ahlstrand-Oxhamre und H. Karlsson, dann durch A. Falk, C. Meyer-Seitz, U. Persson, L. Swedenborg, N. Otte Widgren, E. Karlsson und F. Sjövall als Bevollmächtigte,

Streithelfer,

gegen

Europäische Kommission, zunächst vertreten durch P. Costa de Oliveira und H. Krämer, dann durch H. Krämer und M. Konstantinidis als Bevollmächtigte im Beistand zunächst der Rechtsanwälte A. Krämer und R. Van der Hout, dann von Rechtsanwalt R. Van der Hout,

Beklagte,

wegen Nichtigerklärung des Beschlusses der Kommission vom 16. März 2012, mit dem ein Antrag des Klägers auf Gewährung des Zugangs zu einem Rechtsgutachten der Kommission betreffend die Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über die Vorratsspeicherung von Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste oder öffentlicher Kommunikationsnetze erzeugt oder verarbeitet werden, und zur Änderung der Richtlinie 2002/58/EG (ABl. L 105, S. 54) abgelehnt wurde, und des Beschlusses der Kommission vom 3. April 2012, mit dem die Kommission es ablehnte, dem Kläger umfassenden Zugang zu Dokumenten betreffend die Umsetzung der Richtlinie 2006/24 durch die Republik Österreich sowie zu Dokumenten, die sich auf die Rechtssache beziehen, in der das Urteil vom 29. Juli 2010, Kommission/Österreich (C-189/09, EU:C:2010:455) ergangen ist, zu gewähren, soweit mit diesem Beschluss der Zugang zu den von der Republik Österreich im Rahmen dieser Rechtssache eingereichten Schriftsätzen verweigert wurde,

erlässt

DAS GERICHT (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Präsidentin M. E. Martins Ribeiro sowie der Richter S. Gervasoni und L. Madise (Berichterstatter),

Kanzler: K. Andová, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. September 2014

folgendes

Urteil

Rechtlicher Rahmen

1 Art. 15 Abs. 3 Unterabs. 1 und 4 AEUV bestimmt:

„Jeder Unionsbürger sowie jede natürliche oder juristische Person mit Wohnsitz oder satzungsgemäf‌lem Sitz in einem Mitgliedstaat hat das Recht auf Zugang zu Dokumenten der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, unabhängig von der Form der für diese Dokumente verwendeten Träger, vorbehaltlich der Grundsätze und Bedingungen, die nach diesem Absatz festzulegen sind.

Dieser Absatz gilt für den Gerichtshof der Europäischen Union, die Europäische Zentralbank und die Europäische Investitionsbank nur dann, wenn sie Verwaltungsaufgaben wahrnehmen.“

2 Die Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Mai 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission (ABl. L 145, S. 43) legt die Grundsätze und Bedingungen sowie die Einschränkungen für die Ausübung des in Art. 15 AEUV niedergelegten Rechts auf Zugang zu den Dokumenten des Rates der Europäischen Union, des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission fest.

3 Art. 2 („Zugangsberechtigte und Anwendungsbereich“) Abs. 1 und 3 der Verordnung Nr. 1049/2001 bestimmt:

„(1) Jeder Unionsbürger sowie jede natürliche oder juristische Person mit Wohnsitz oder Sitz in einem Mitgliedstaat hat vorbehaltlich der in dieser Verordnung festgelegten Grundsätze, Bedingungen und Einschränkungen ein Recht auf Zugang zu Dokumenten der Organe.

(3) Diese Verordnung gilt für alle Dokumente eines Organs, das heif‌lt Dokumente aus allen Tätigkeitsbereichen der Union, die von dem Organ erstellt wurden oder bei ihm eingegangen sind und sich in seinem Besitz befinden.“

4 Art. 3 der Verordnung Nr. 1049/2001 definiert die Begriffe „Dokument“ und „Dritte“ wie folgt:

„a) ‚Dokument‘: Inhalte unabhängig von der Form des Datenträgers (auf Papier oder in elektronischer Form, Ton-, Bild- oder audiovisuelles Material), die einen Sachverhalt im Zusammenhang mit den Politiken, Maf‌lnahmen oder Entscheidungen aus dem Zuständigkeitsbereich des Organs betreffen;

  1. ‚Dritte‘: alle natürlichen und juristischen Personen und Einrichtungen auf‌lerhalb des betreffenden Organs, einschlief‌llich der Mitgliedstaaten, der anderen Gemeinschafts- oder Nicht-Gemeinschaftsorgane und -einrichtungen und der Drittländer.“

5 Art. 4 („Ausnahmen“) Abs. 2 und 5 der Verordnung Nr. 1049/2001 bestimmt u. a.:

„(2) Die Organe verweigern den Zugang zu einem Dokument, durch dessen Verbreitung Folgendes beeinträchtigt würde:

- …

- der Schutz von Gerichtsverfahren und der Rechtsberatung,

- …

es sei denn, es besteht ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung.

(5) Ein Mitgliedstaat kann das Organ ersuchen, ein aus diesem Mitgliedstaat stammendes Dokument nicht ohne seine vorherige Zustimmung zu verbreiten.“

Vorgeschichte des Rechtsstreits

6 Mit Schreiben vom 30. März 2011 beantragte der Kläger Patrick Breyer bei der Europäischen Kommission gemäf‌l Art. 6 der Verordnung Nr. 1049/2001 Zugang zu Dokumenten.

7 Die angeforderten Dokumente betrafen Vertragsverletzungsverfahren, die die Kommission 2007 gegen die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Österreich bezüglich der Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über die Vorratsspeicherung von Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste oder öffentlicher Kommunikationsnetze erzeugt oder verarbeitet werden, und zur Änderung der Richtlinie 2002/58/EG (ABl. L 105, S. 54) eingeleitet hatte. So beantragte der Kläger Zugang zu allen Dokumenten bezüglich der von der Kommission durchgeführten Verwaltungsverfahren sowie zu allen Dokumenten betreffend das Gerichtsverfahren, in dem das Urteil vom 29. Juli 2010, Kommission/Österreich (C-189/09, EU:C:2010:455), ergangen ist.

8 Am 11. Juli 2011 lehnte die Kommission den Antrag des Klägers vom 30. März 2011 ab.

9 Am 13. Juli 2011 stellte der Kläger gemäf‌l Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1049/2001 einen Zweitantrag.

10 Mit Beschlüssen vom 5. Oktober und 12. Dezember 2011 gewährte die Kommission in Bezug auf die gegen die Bundesrepublik Deutschland eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren teilweise Zugang zu den angeforderten Dokumenten. In diesen Beschlüssen setzte die Kommission den Kläger darüber hinaus von ihrer Absicht in Kenntnis, einen gesonderten Beschluss über die Dokumente betreffend die Rechtssache, in der das Urteil Kommission/Österreich (oben in Rn. 7 angeführt, EU:C:2010:455) ergangen ist, zu erlassen.

11 Mit Schreiben vom 4. Januar 2012 beantragte der Kläger bei der Kommission gemäf‌l Art. 6 der Verordnung Nr. 1049/2001 den Zugang zu einem Gutachten ihres Juristischen Dienstes mit dem Aktenzeichen Ares (2010) 828204 zu einer eventuellen Änderung der Richtlinie 2006/24 im Sinne einer wahlweisen Anwendung durch die Mitgliedstaaten (im Folgenden: Antrag vom 4. Januar 2012).

12 Am 17. Februar 2012 lehnte die Kommission den Antrag vom 4. Januar 2012 ab.

13 Am selben Tag stellte der Kläger per E-Mail einen Zweitantrag nach Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1049/2001.

14 Auf diesen Zweitantrag erlief‌l die Kommission den Beschluss Ares (2012) 313186 vom 16. März 2012, mit dem sie die Verweigerung des Zugangs zu ihrem Rechtsgutachten bestätigte (im Folgenden: Beschluss vom 16. März 2012). Diese Weigerung war auf die Ausnahmen nach Art. 4 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich (Schutz der Rechtsberatung) und Art. 4 Abs. 3 (Schutz des Entscheidungsprozesses) der Verordnung Nr. 1049/2001 gestützt.

15 Am 3. April 2012 erlief‌l die Kommission auf den Zweitantrag vom 13. Juli 2011 den Beschluss Ares (2012) 399467 (im Folgenden: Beschluss vom 3. April 2012) über den Zugang des Klägers zu den Unterlagen der Verwaltungsakte des oben in Rn. 7 genannten Vertragsverletzungsverfahrens gegen die Republik Österreich und zu den Dokumenten bezüglich des Gerichtsverfahrens in der Rechtssache, in der das Urteil Kommission/Österreich (oben in Rn. 7 angeführt, EU:C:2010:455) ergangen ist. In Bezug auf das Gerichtsverfahren verweigerte die Kommission insbesondere den Zugang zu den Schriftsätzen der Republik Österreich (im Folgenden: in Rede stehende Schriftsätze) mit der Begründung, dass diese nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1049/2001 fielen. Erstens nämlich sei der Gerichtshof der Europäischen Union als Organ gemäf‌l Art. 15 Abs. 3 AEUV den Bestimmungen über den Zugang zu Dokumenten nur bei Wahrnehmung seiner Verwaltungsaufgaben unterworfen. Zweitens seien die in Rede stehenden Schriftsätze an den Gerichtshof gerichtet gewesen, während die Kommission als Partei in der Rechtssache, in der das Urteil Kommission/Österreich (oben in Rn. 7 angeführt, EU:C:2010:455) ergangen sei, nur Abschriften erhalten habe. Drittens sehe Art. 20 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union die Übermittlung der Schriftsätze eines Gerichtsverfahrens nur an die Parteien dieses Verfahrens und an die Organe vor, deren Beschlüsse Gegenstand des Verfahrens seien. Viertens habe sich der Gerichtshof im Urteil vom 21. September 2010, Schweden u. a./API und Kommission (C-514/07 P, C-528/07 P und C-532/07 P, Slg, EU:C:2010:541), nicht mit der Frage befasst, ob die Organe Zugang zu den Schriftsätzen einer anderen Partei eines Gerichtsverfahrens gewähren müssten. Daher fielen von den im Rahmen eines Gerichtsverfahrens eingereichten Schriftsätzen nur die Schriftsätze der Organe, nicht aber die von anderen Parteien eingereichten in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1049/2001; andernfalls würden Art. 15...

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