Conclusiones de la Abogado General Sra. T. Ćapeta, presentadas el 7 de abril de 2022.

JurisdictionEuropean Union
Date07 April 2022
CourtCourt of Justice (European Union)

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

TAMARA ĆAPETA

vom 7. April 2022(1)

Rechtssache C721/20

DB Station & Service AG

gegen

ODEG Ostdeutsche Eisenbahn GmbH

(Vorabentscheidungsersuchen des Kammergerichts Berlin, Deutschland)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Eisenbahnverkehrsleistungen – Art. 102 AEUV – Missbrauch einer beherrschenden Stellung – Richtlinie 2001/14/EG – Art. 30 – Regulierungsstelle für den Eisenbahnverkehr – Wettbewerbsrechtliche Überprüfung der Entgelte – Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen den Zivilgerichten und der Regulierungsstelle“






I. Einleitung

1. Die vorliegende Rechtssache betrifft den Konflikt zwischen der durch das Urteil vom 9. November 2017, CTL Logistics (C‑489/15, im Folgenden: Urteil CTL Logistics, EU:C:2017:834), begründeten und durch das Urteil vom 8. Juli 2021, Koleje Mazowieckie (C‑120/20, im Folgenden: Urteil Koleje Mazowieckie, EU:C:2021:553), fortgeführten Rechtsprechung, wonach Einwände gegen Entgelte für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur vor Erhebung einer Klage vor der gemäß Art. 30 der Richtlinie 2001/14/EG(2) eingerichteten Regulierungsstelle geltend zu machen sind, und der Doktrin der unmittelbaren Wirkung von Art. 102 AEUV(3), wonach die nationalen Gerichte befugt sind, unmittelbar zu überprüfen, ob der Betreiber der Infrastruktur bei der Festsetzung der Entgelte einen Missbrauch im Sinne dieser Vorschrift begangen hat.

2. Das Kammergericht Berlin (Deutschland) möchte im Wesentlichen wissen, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die Zivilgerichte befugt sind, die Höhe der Entgelte für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur nach dem Maßstab von Art. 102 AEUV zu prüfen.

3. Das Vorabentscheidungsersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der ODEG Ostdeutsche Eisenbahn GmbH (im Folgenden: ODEG), einem deutschen Eisenbahnverkehrsunternehmen, und der DB Station & Service AG, die in Deutschland rund 5 400 Bahnhöfe und ‑stationen betreibt. Es geht um die Rückzahlung der Entgelte, die ODEG für den Zeitraum November 2006 bis Dezember 2010 für die Nutzung der von der DB Station & Service AG betriebenen Bahnhöfe und ‑stationen(4) entrichtet hat.

II. Ausgangsverfahren, Verfahren vor den Gerichtshof und Vorlagefragen

4. Als Tochtergesellschaft der Deutsche Bahn AG (etablierter Anbieter des Eisenbahnverkehrssektors in Deutschland) betreibt DB Station & Service Bahnhöfe und ‑stationen in Deutschland. Die Bedingungen der Nutzung dieser Anlagen sind in Rahmenverträgen festgelegt, die DB Station & Service mit den Eisenbahnverkehrsunternehmen schließt. Die Einzelnutzungen der Anlagen werden in gesonderten Verträgen geregelt. Die Höhe der Entgelte richtet sich nach einer von DB Station & Service erstellten Stationspreisliste, die nach Preiskategorien und Bundesländern gestaffelt ist.

5. ODEG ist ein Eisenbahnverkehrsunternehmen, das im Rahmen seiner Tätigkeit des Schienenpersonennahverkehrs(5) die Infrastruktur von DB Station & Service nutzt. Die beiden Unternehmen haben hierzu einen Rahmenvertrag geschlossen.

6. Zum 1. Januar 2005 führte DB Station & Service eine neue Preisliste ein, das Preissystem „SPS 05“. Für ODEG führte die neue Preisliste zu einer Erhöhung der Entgelte für die Nutzung von Infrastruktur, mit der sie nicht einverstanden war. Sie zahlte die Entgelte deshalb nur unter Vorbehalt.

7. Die zuständige Regulierungsstelle, die Bundesnetzagentur, erklärte das „SPS 05“ mit Bescheid vom 10. Dezember 2009 für ungültig. Dies geschah allerdings erst mit Wirkung zum 1. Mai 2010, um die Anwendung eines neuen Preissystems ab diesem Zeitpunkt zu ermöglichen. Hinsichtlich der Erstattung zu viel entrichteter Entgelte verwies die Bundesnetzagentur die Beschwerdeführer an die Zivilgerichte.(6)

8. DB Station & Service legte gegen diesen Bescheid Widerspruch ein. Mit Beschluss vom 23. März 2010 ordnete das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen dessen aufschiebende Wirkung an. Zum Zeitpunkt der Einreichung des Vorabentscheidungsersuchens in der vorliegenden Rechtssache war noch keine Entscheidung in der Hauptsache ergangen.

9. ODEG erhob beim Landgericht Berlin mehrere Klagen auf Erstattung der für den Zeitraum November 2006 bis Dezember 2010 gezahlten Entgelte, soweit diese über die Entgelte hinausgehen, die nach der alten Preisliste, dem „SPS 99“, zu entrichten gewesen wären. Das Landgericht Berlin gab diesen Klagen gemäß § 315 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (im Folgenden: BGB)(7), der es dem Richter ermöglicht, das vertragliche Gleichgewicht wiederherzustellen, aus Gründen der Billigkeit statt. Dagegen legte DB Station & Service beim Kammergericht Berlin Berufung ein, das die verschiedenen Rechtssachen mit Beschluss vom 30. November 2015 verband.

10. In der Zwischenzeit entschied der Gerichtshof in einem Vorabentscheidungsverfahren, das einen vergleichbaren Zivilrechtsstreit betraf, mit dem Urteil CTL Logistics, dass eine Überprüfung der Billigkeit von Trassenentgelten durch die ordentlichen Gerichte nicht unabhängig von der Überwachung der zuständigen Regulierungsbehörde erfolgen dürfe, da die Überprüfung der Berechnungsmodalitäten und der Höhe der Entgelte nach Maßgabe der Richtlinie 2001/14 in die ausschließliche Zuständigkeit der gemäß Art. 30 der Richtlinie eingerichteten Regulierungsstelle falle.(8)

11. Daraufhin wurden bei der Bundesnetzagentur erneut Anträge auf Erstattung gestellt. Mit Beschluss vom 11. Oktober 2019 verwarf die Bundesnetzagentur die Beschwerden mehrerer Eisenbahnverkehrsunternehmen, mit denen die rückwirkende Überprüfung der Rechtmäßigkeit des „SPS 05“ und die Erstattung zu viel entrichteter Entgelte begehrt wurde, wegen Verfristung als unzulässig.(9) Gegen diesen Beschluss wurde eine Klage erhoben, die zum Zeitpunkt der Einreichung des Vorabentscheidungsersuchen in der vorliegenden Rechtssache immer noch beim Verwaltungsgericht Köln anhängig war.

12. Das Kammergericht Berlin ist der Auffassung, dass die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits von der Auslegung der Richtlinie 2001/14 abhängig sei, die zeitlich und sachlich anwendbar sei.

13. Es fragt sich insbesondere, ob die in dem Urteil CTL Logistics aufgestellten Grundsätze auf die Überprüfung entsprechender Entgelte nach dem Maßstab des Art. 102 AEUV und des nationalen Wettbewerbsrechts, wonach die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung verboten sei, entsprechend Anwendung fänden. Im Ausgangsrechtsstreit sei im Berufungsverfahren nach dem Urteil CTL Logistics nun nämlich diese Rechtsgrundlage maßgeblich.

14. Mehrere deutsche Zivilgerichte hätten diese Frage bejaht. Sie seien davon ausgegangen, dass sie durch die in dem Urteil CTL Logistics aufgestellten Grundsätze daran gehindert seien, über Rückforderungsklagen zu entscheiden, solange insoweit keine bestandskräftige Entscheidung der zuständigen Regulierungsstelle vorliege. Hingegen habe der Bundesgerichtshof in einem Urteil vom 29. Oktober 2019 („Trassenentgelte“(10)) festgestellt, dass die Anwendung von Art. 102 AEUV durch die Zivilgerichte zulässig sei, ohne dass hierfür eine bestandskräftige Entscheidung der Regulierungsstelle notwendig sei.

15. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts sprechen gute Gründe dafür, von der Auffassung des obersten deutschen Zivilgerichts abzuweichen.

16. Zwar habe das Urteil CTL Logistics die Unvereinbarkeit der im deutschen Zivilrecht vorgesehenen Billigkeitskontrolle mit der Richtlinie 2001/14 betroffen. Die Begründung des Urteils lasse sich aber auf die Anwendung des Wettbewerbsrechts durch die Zivilgerichte übertragen. Das Tätigwerden der Zivilgerichte unabhängig von der Regulierungsstelle könne nämlich zu einer Situation der Ungleichheit führen, wenn bestimmte Eisenbahnverkehrsunternehmen deshalb niedrigere Entgelte für die Nutzung der Infrastruktur zu entrichten hätten. Das zentrale Anliegen der Richtlinie 2001/14/EG, einen diskriminierungsfreien Zugang zur Eisenbahninfrastruktur zu gewährleisten und so einen fairen Wettbewerb zu ermöglichen, würde dadurch ins Gegenteil verkehrt. Die Überprüfung durch die Zivilgerichte würde auch einen Übergriff in die ausschließliche Zuständigkeit der Regulierungsstelle darstellen.

17. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hätten die nationalen Gerichte Art. 102 AEUV zwar unmittelbar anzuwenden. Der Gerichtshof habe bislang allerdings noch nicht entschieden, ob dies auch dann gelte, wenn die Festsetzung der Entgelte durch eine Regulierungsbehörde überwacht werde, deren Entscheidungen einer gerichtlichen Nachprüfung unterlägen.

18. Mit seinem Urteil „Stationspreissystem II“ vom 1. September 2020(11) habe der Bundesgerichtshof festgestellt, dass die Regulierungsstelle nach Art. 30 Abs. 3 der Richtlinie 2001/14 keine Befugnis zur Überprüfung bereits gezahlter Entgelte oder gar zur Anordnung einer Erstattung habe. Der Bundesgerichtshof habe daraus gefolgert, dass die Missbrauchskontrolle gemäß Art. 102 AEUV nicht mit den Befugnissen der Regulierungsstelle in Konflikt geraten könne, da die Missbrauchskontrolle auf die Zuerkennung von Schadensersatz für in der Vergangenheit liegende Verhaltensweisen der Unternehmen beschränkt sei.

19. Das vorlegende Gericht hält dieses Verständnis des Unionsrechts für unzutreffend. Zum einen finde sich in der Richtlinie 2001/14 keinerlei Stütze für die Auffassung, dass die Regulierungsstelle nur für die Zukunft entscheide. Zum anderen ermögliche Art. 102 AEUV den Erlass von Entscheidungen, mit denen die Nichtigkeit der Handlungen festgestellt werde oder das Abstellen eines Verhaltens angeordnet werde. Im Übrigen könne auch die Erstattung in der Vergangenheit entrichteter Entgelte zu Wettbewerbsverzerrungen führen und mit den Zielen der Richtlinie 2001/14 in Konflikt geraten. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts hätte der Bundesgerichtshof dem Gerichtshof daher entsprechende Fragen zur Vorabentscheidung vorlegen müssen.

20. Das Kammergericht Berlin hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur...

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