Dyrektor Krajowej Informacji Skarbowej v Gmina L.

JurisdictionEuropean Union
Date30 March 2023
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

30. März 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 2 Abs. 1 Buchst. c – Dienstleistung gegen Entgelt – Art. 9 Abs. 1 – Begriffe ‚Steuerpflichtiger‘ und ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ – Gemeinde, die unentgeltlich eine Asbestbeseitigung für diejenigen ihrer Einwohner organsiert, die Eigentümer einer Immobilie sind und den entsprechenden Wunsch geäußert haben – Erstattung von 40 % bis 100 % der Kosten an die Gemeinde durch einen Zuschuss der zuständigen Woiwodschaft – Art. 13 Abs. 1 – Keine Steuerpflichtigkeit der Gemeinden für Tätigkeiten oder Umsätze, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen“

In der Rechtssache C‑616/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) mit Entscheidung vom 16. April 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Oktober 2021, in dem Verfahren

Dyrektor Krajowej Informacji Skarbowej

gegen

Gmina L.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter N. Wahl (Berichterstatter) und J. Passer,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– des Dyrektor Krajowej Informacji Skarbowej, vertreten durch B. Kołodziej, D. Pach und T. Wojciechowski,

– der Gmina L., vertreten durch R. Majerowska, Radca prawny,

– der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch Ł. Habiak und V. Uher als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 10. November 2022

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Abs. 1, Art. 9 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Gmina L. (Gemeinde L.) in Polen und dem Dyrektor Krajowej Informacji Skarbowej (Direktor der nationalen Steuerinformationsbehörde, Polen) wegen eines an diese Gemeinde gerichteten Steuervorbescheids über die Besteuerung der von ihr veranlassten Asbestbeseitigungsmaßnahmen mit der Mehrwertsteuer und das Recht auf Abzug der Vorsteuer auf diese Maßnahmen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3 Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:

„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:

c) Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt;

…“

4 Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:

„Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.

Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.“

5 In Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 heißt es:

„Staaten, Länder, Gemeinden und sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts gelten nicht als Steuerpflichtige, soweit sie die Tätigkeiten ausüben oder Umsätze bewirken, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, auch wenn sie im Zusammenhang mit diesen Tätigkeiten oder Umsätzen Zölle, Gebühren, Beiträge oder sonstige Abgaben erheben.

Falls sie solche Tätigkeiten ausüben oder Umsätze bewirken, gelten sie für diese Tätigkeiten oder Umsätze jedoch als Steuerpflichtige, sofern eine Behandlung als Nichtsteuerpflichtige zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führen würde.

Die Einrichtungen des öffentlichen Rechts gelten in Bezug auf die in Anhang I genannten Tätigkeiten in jedem Fall als Steuerpflichtige, sofern der Umfang dieser Tätigkeiten nicht unbedeutend ist.“

6 Art. 28 der Richtlinie 2006/112 lautet:

„Steuerpflichtige, die bei der Erbringung von Dienstleistungen im eigenen Namen, aber für Rechnung Dritter tätig werden, werden behandelt, als ob sie diese Dienstleistungen selbst erhalten und erbracht hätten.“

Polnisches Recht

7 Die Ustawa o samorządzie gminnym (Gesetz über die Selbstverwaltung der Gemeinden) vom 8. März 1990 (Dz. U. 1990, Nr. 16, Position 95) in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung enthält einen Art. 7, dessen Abs. 1 wie folgt lautet:

„Die Befriedigung der kollektiven Bedürfnisse der Gemeinschaft ist eine eigene Aufgabe der Gemeinde. Zu den eigenen Aufgaben gehören insbesondere Angelegenheiten:

1) der Raumordnung, der Immobilienwirtschaft, des Umwelt- und Naturschutzes sowie der Wasserwirtschaft; …

5) des Gesundheitsschutzes; …“

8 Die Ustawa Prawo ochrony środowiska (Umweltschutzgesetz) vom 27. April 2001 (Dz. U. 2001, Nr. 62, Position 627) in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung sieht in Art. 400 Abs. 2 vor:

„Die Woiwodschaftsfonds für Umweltschutz und Wasserwirtschaft, im Folgenden als ‚Woiwodschaftsfonds‘ bezeichnet, sind juristische Personen der kommunalen Selbstverwaltung …“

9 Art. 400b Abs. 2 und 2a dieses Gesetzes bestimmt:

„2. Ziel der Tätigkeit der Woiwodschaftsfonds ist die Finanzierung des Umweltschutzes und der Wasserwirtschaft in dem in Art. 400a Abs. 1 Nrn. 2, 2a, 5 bis 9a, 11 bis 22 und 24 bis 42 genannten Umfang.

2a. Ziel der Tätigkeit des Nationalfonds und der Woiwodschaftsfonds ist es auch, die Bedingungen für die Umsetzung der Finanzierung des Umweltschutzes und der Wasserwirtschaft zu schaffen, insbesondere durch die Unterstützung und Förderung von Aktivitäten, die auf eine solche Umsetzung abzielen, sowie durch die Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen, einschließlich Gebietskörperschaften, Unternehmern und Einrichtungen mit Sitz außerhalb der Republik Polen.“

10 Die Ustawa o podatku od towarów i usług (Gesetz über die Steuer auf Gegenstände und Dienstleistungen) vom 11. März 2004 (Dz. U. 2004, Nr. 54, Position 535) in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung dient der Umsetzung der Richtlinie 2006/112 in polnisches Recht.

11 Art. 5 dieses Gesetzes sieht vor:

„Der Steuer auf Gegenstände und Dienstleistungen ... unterliegen:

1) die entgeltliche Lieferung von Gegenständen und die entgeltliche Erbringung von Dienstleistungen im Inland;

…“

12 Art. 15 dieses Gesetzes sieht vor:

„1. Steuerpflichtig sind juristische Personen, Organisationseinheiten ohne Rechtspersönlichkeit und natürliche Personen, die eine in Abs. 2 genannte Wirtschaftstätigkeit unabhängig von ihrem Zweck oder Ergebnis selbständig ausüben.

2. Die wirtschaftliche Tätigkeit umfasst jegliche Tätigkeit der Hersteller, Händler oder Dienstleister, einschließlich der Wirtschaftsteilnehmer, die natürliche Ressourcen gewinnen, und der Landwirte, sowie die freiberufliche Tätigkeit. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.

6. Als nicht steuerpflichtig gelten die Organe der öffentlichen Gewalt und Ämter, die diese Organe im Bereich der durch besondere Rechtsvorschriften auferlegten Aufgaben unterstützen, zu deren Erfüllung sie bestellt worden sind, ausgenommen die Tätigkeiten, die aufgrund zivilrechtlicher Verträge ausgeübt werden.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

13 Im Rahmen des Programms zur Asbestbeseitigung in Polen, das auf der Grundlage eines Beschlusses des Ministerrats der Republik Polen vom 14. Juli 2009 über die Erstellung eines mehrjährigen Programms mit dem Titel „Programm zur Säuberung des Landes von Asbest für die Jahre 2009–2032“ ausgearbeitet wurde, übertrug der Gemeinderat der Gemeinde L. dem Bürgermeister dieser Gemeinde mit dem Beschluss 227/VI/2019 vom 26. April 2019 mit dem Titel „Aktualisierung des Asbestbeseitigungsprogramms für die Stadt L. für die Jahre 2018–2032“ die...

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