Opinion of Advocate General Collins delivered on 7 December 2023.

JurisdictionEuropean Union
Date07 December 2023
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

ANTHONY COLLINS

vom 7. Dezember 2023(1)

Rechtssache C547/22

INGSTEEL spol. s. r. o.

gegen

Úrad pre verejné obstarávanie

(Vorabentscheidungsersuchen des Okresný súd Bratislava II [Bezirksgericht Bratislava II, Slowakei])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Öffentliches Auftragswesen – Nachprüfungsverfahren – Richtlinie 89/665/EWG – Außervertragliche Haftung der Mitgliedstaaten – Schadensersatzklage eines erfolglosen Bieters wegen Verstoßes gegen Unionsrecht – Quantifizierung – Entgangener Gewinn – Verlust einer Chance“






I. Einleitung

1. Sind Mitgliedstaaten nach Unionsrecht verpflichtet, eine auf den Verlust einer Chance gestützte Schadensersatzklage eines rechtswidrig von einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags ausgeschlossenen Bieters zuzulassen, wenn dieses Verfahren abgeschlossen und ein Vertrag mit dem erfolgreichen Bieter geschlossen wurde? Bei der Beantwortung dieser Frage wird der Gerichtshof darüber befinden müssen, ob die Gewährung von Schadensersatz, die Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge(2) thematisiert, der Regelung durch Gesetze der Mitgliedstaaten unterliegt. Wird dies bejaht, wird der Gerichtshof prüfen müssen, welche Folgen sich daraus ergeben, dass diese Gesetze mit dem Effektivitätsgrundsatz vereinbar sein müssen.

II. Rechtlicher Rahmen

A. Unionsrecht

2. Die Erwägungsgründe der Richtlinie 89/665 führen u. a. Folgendes aus:

„Der Umstand, dass in einigen Mitgliedstaaten keine wirksamen oder nur unzulängliche Nachprüfungsverfahren bestehen, hält die Unternehmen der Gemeinschaft davon ab, sich um Aufträge in dem Staat des jeweiligen öffentlichen Auftraggebers zu bewerben. Deshalb müssen die betreffenden Mitgliedstaaten Abhilfe schaffen.

In allen Mitgliedstaaten müssen geeignete Verfahren geschaffen werden, um die Aufhebung rechtswidriger Entscheidungen und die Entschädigung der durch einen Verstoß Geschädigten zu ermöglichen.“

3. Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 4 der Richtlinie 89/665 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten ergreifen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass hinsichtlich der in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2014/24/EU beziehungsweise der Richtlinie 2014/23/EU fallenden Aufträge oder Konzessionen die Entscheidungen der öffentlichen Auftraggeber wirksam … überprüft werden können …“

4. Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie 89/665 sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Nachprüfungsverfahren entsprechend den gegebenenfalls von den Mitgliedstaaten festzulegenden Bedingungen zumindest jeder Person zur Verfügung stehen, die ein Interesse an einem bestimmten Auftrag hat oder hatte und der durch einen behaupteten Verstoß ein Schaden entstanden ist bzw. zu entstehen droht.“

5. Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 89/665 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass für die in Artikel 1 genannten Nachprüfungsverfahren die erforderlichen Befugnisse vorgesehen werden, damit

c) denjenigen, die durch den Verstoß geschädigt worden sind, Schadensersatz zuerkannt werden kann.“

B. Slowakisches Recht

6. Nach § 3 Abs. 1 Buchst. a des Zákon č. 514/2003 Z. z. o zodpovednosti za škodu spôsobenú pri výkone verejnej moci (Gesetz Nr. 514/2003 über die Haftung für in Ausübung der öffentlichen Gewalt verursachte Schäden, im Folgenden: Gesetz Nr. 514/2003) haftet der Staat für Schäden, die durch eine rechtswidrige Entscheidung einer Behörde verursacht worden sind.

7. Gemäß § 5 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 514/2003 hat die Partei eines Verfahrens, die durch die in diesem Verfahren getroffene rechtswidrige Entscheidung einen Schaden erlitten hat, Anspruch auf Schadensersatz.

8. § 17 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 514/2003 bestimmt, dass der tatsächliche Schaden und der entgangene Gewinn zu ersetzen sind, soweit nicht eine besondere Regelung etwas anderes bestimmt.

9. § 442 Abs. 1 des Zákon č. 40/1964 Zb. Občiansky zakonnik (Gesetz Nr. 40/1964, Bürgerliches Gesetzbuch) sieht vor, dass bei Schadensersatzklagen der tatsächliche Schaden und der entgangene Gewinn ersetzt werden.

10. Der Zákon č. 25/2006 Z. z. o verejnom obstarávaní (Gesetz Nr. 25/2006 über das öffentliche Auftragswesen) enthält offenbar keine spezifischen Bestimmungen über Schadensersatzklagen, die im Zusammenhang mit der Vergabe öffentlicher Aufträge erhoben werden.

III. Ausgangsverfahren, Vorabentscheidungsersuchen und Verfahren vor dem Gerichtshof

11. Im Jahr 2013 veröffentlichte der Slowakische Fußballverband eine Ausschreibung für die Vergabe eines Auftrags über den Bau, die Rekonstruktion und die Modernisierung von Fußballstadien. An diesem Vergabeverfahren beteiligte sich INGSTEEL spol s.r.o. (im Folgenden: Ingsteel), ein im Bausektor tätiges Unternehmen. Der Slowakische Fußballverband schloss Ingsteel mit der Begründung von diesem Verfahren aus, dass dieses Unternehmen nicht die Anforderungen an eine finanzielle und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit im Sinne der Ausschreibung erfülle. Ingsteel erhob daraufhin Klage, mit der sie die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung in Frage stellte. Im Lauf dieses Klageverfahrens richtete das Najvyšší súd Slovenskej republiky (Oberstes Gericht der Slowakischen Republik) an den Gerichtshof ein Ersuchen um Vorabentscheidung.

12. In seinem Urteil vom 13. Juli 2017, Ingsteel und Metrostav (C‑76/16, EU:C:2017:549), entschied der Gerichtshof, dass die Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge(3) dahin auszulegen ist, dass, wenn in einer Ausschreibung die Vorlage einer von einer Bank ausgestellten Bescheinigung verlangt wird, wonach diese sich verpflichtet, dem Bieter ein Darlehen zu gewähren, und die vom Bieter angesprochenen Banken die Vorlage einer solchen Bescheinigung ablehnen, dieser Bieter seine wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit auf andere geeignete Weise nachweisen kann. Angesichts dieses Urteils des Gerichtshofs kam der Najvyšší súd Slovenskej republiky (Oberstes Gericht der Slowakischen Republik) zu dem Schluss, dass die Entscheidung über den Ausschluss von Ingsteel rechtswidrig sei, und hob diese Entscheidung auf. Dieses Gericht verwies die Sache sodann an die Úrad pre verejné obstarávanie (Behörde für das öffentliche Auftragswesen, Slowakei) zur Vornahme geeigneter Maßnahmen.

13. Da das Vergabeverfahren bereits beendet worden war und der öffentliche Auftraggeber mit dem erfolgreichen Bieter einen Rahmenvertrag geschlossen hatte, erhob Ingsteel gegen Úrad pre verejné obstarávanie (Behörde für das öffentliche Auftragswesen) Klage und begehrte u. a. Schadensersatz dafür, dass dem Unternehmen die Chance entgangen sei, sich in dem Vergabeverfahren als erfolgreicher Bieter zu behaupten. Ingsteel machte geltend, dass der Verlust einer Chance und der entgangene Gewinn zwei unterschiedliche Schadensposten seien. Nach slowakischem Recht sei der Beweismaßstab für den Nachweis der hinreichenden Vorhersehbarkeit eines Schadens bei auf den Verlust einer Chance gestützten Klagen offenbar niedriger als bei Klagen wegen entgangenen Gewinns.

14. Die Úrad pre verejné obstarávanie (Behörde für das öffentliche Auftragswesen) vertritt die Auffassung, dass der Schadensersatzanspruch von Ingsteel hypothetischer Natur sei. Es habe keine Garantie dafür bestanden, dass Ingsteel als erfolgreicher Bieter ausgewählt worden wäre oder dass, wenn Ingsteel ausgewählt worden wäre, der öffentliche Auftraggeber mit Ingsteel einen Vertrag geschlossen hätte.

15. Für das Okresný súd Bratislava II (Bezirksgericht Bratislava II, Slowakei) stellt sich die Frage, ob es gemäß der Richtlinie 89/665 verpflichtet ist, eine Klage eines Bieters auf Ersatz des wegen des Verlusts einer Chance entstandenen Schadens zuzulassen, wenn ein Gericht die Entscheidung, diesen Bieter von einem Verfahren auszuschließen, das zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags führte, aufgehoben und der öffentliche Auftraggeber den Auftrag an einen anderen Bieter vergeben hat. Es hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Kann davon ausgegangen werden, dass es mit Art. 2 Abs. 1 Buchst. c in Verbindung mit Art. 2 Abs. 6 und 7 der Richtlinie 89/665 vereinbar ist, dass ein nationales Gericht, das über eine Klage auf Ersatz des Schadens entscheidet, der einem rechtswidrig von einem öffentlichen Vergabeverfahren ausgeschlossenen Bieter entstanden ist, in der Weise vorgeht, dass es die Gewährung von Schadensersatz für entgangene Chancen (loss of opportunity) ablehnt?

2. Kann davon ausgegangen werden, dass es mit Art. 2 Abs. 1 Buchst. c in Verbindung mit Art. 2 Abs. 6 und 7 der Richtlinie 89/665 vereinbar ist, dass ein nationales Gericht, das über eine Klage auf Ersatz des Schadens entscheidet, der einem rechtswidrig von einem öffentlichen Vergabeverfahren ausgeschlossenen Bieter entstanden ist, in der Weise vorgeht, dass es den aufgrund des Verlusts der Möglichkeit, an der öffentlichen Ausschreibung teilzunehmen, entgangenen Gewinn nicht als Bestandteil des Schadensersatzanspruchs betrachtet?

16. Die Úrad pre verejné obstarávanie (Behörde für das öffentliche Auftragswesen), die tschechische, die französische und die slowakische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen abgegeben. In der Sitzung vom 20. September 2023 haben die tschechische und die österreichische Regierung sowie die Kommission mündliche Ausführungen gemacht und Fragen des Gerichtshofs beantwortet.

IV. Würdigung

A. Zulässigkeit

17. Die Úrad pre verejné obstarávanie (Behörde für das öffentliche Auftragswesen) macht zwei Gründe geltend, weshalb der Gerichtshof das Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig erklären...

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