Opinion of Advocate General Kokott delivered on 8 September 2022.
Jurisdiction | European Union |
Celex Number | 62021CC0378 |
ECLI | ECLI:EU:C:2022:657 |
Date | 08 September 2022 |
Court | Court of Justice (European Union) |
SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN
JULIANE KOKOTT
vom 8. September 2022(1)
Rechtssache C‑378/21
P GmbH,
Beteiligte:
Finanzamt Österreich
(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesfinanzgerichts [Österreich])
„Vorabentscheidungsersuchen – Mehrwertsteuer – Irrtum über die zutreffende Höhe des Steuersatzes – Berichtigung der Steuerschuld – Faktische Unmöglichkeit der Berichtigung schon ausgestellter Rechnungen – Entbehrlichkeit der Rechnungsberichtigung, wenn die Leistungsempfänger keine Steuerpflichtigen sind – Keine Gefährdung des Steueraufkommens – Einwand der ungerechtfertigten Bereicherung“
I. Einführung
1. Das Mehrwertsteuerrecht ist für Steuerpflichtige, die diese Steuer eigentlich nur für Rechnung des Staates von ihren Kunden einnehmen sollen, ein riskantes Rechtsgebiet. Legt der Steuerpflichtige z. B. fälschlicherweise einen zu niedrigen Steuersatz zugrunde, so schuldet er dennoch den richtigen (höheren) Steuerbetrag, den er an den Staat abführen muss. Dies gilt auch, wenn er die höhere Mehrwertsteuer aus rechtlichen und/oder faktischen Gründen nicht nachträglich auf seine Kunden überwälzen kann.
2. In diesem Vorabentscheidungsverfahren muss der Gerichtshof nun den umgekehrten Fall entscheiden, in dem der Steuerpflichtige fälschlicherweise ein ganzes Jahr lang mit einem zu hohen Steuersatz kalkuliert und diesen in der Rechnung ausgewiesen und abgeführt hat. Darf der Staat diese zu hohe Mehrwertsteuer behalten, oder ist sie an den Steuerpflichtigen zurückzuzahlen? Immerhin ist die Steuer in der Höhe materiell nicht entstanden. Andererseits wurden Rechnungen mit einem zu hohen Steuerausweis erstellt, die die Kunden zu einem zu hohen Vorsteuerabzug verleiten könnten. Müssen diese Rechnungen daher zuvor berichtigt werden? Gilt dies auch, wenn die Leistungen ausschließlich an nicht zum Vorsteuerabzug berechtigte Endverbraucher ausgeführt wurden, so dass diese ohnehin keinen Vorsteuerabzug geltend machen könnten?
3. Unter Berücksichtigung des Verbrauchsteuercharakters müsste eigentlich der Kunde die von ihm bezahlte zu hohe Mehrwertsteuer vom Leistenden erstattet bekommen. Wenn dies rechtlich aber nicht möglich ist (z. B., wenn als Preis ein Festpreis vereinbart war) oder faktisch ausgeschlossen ist (z. B., weil die Kunden nicht namentlich bekannt sind), stellt sich die Frage, wer durch den Irrtum über die richtige Höhe der Steuer endgültig „bereichert“ bleiben darf – der Staat oder der sich irrende Steuerpflichtige?
II. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
4. Den unionsrechtlichen Rahmen bestimmt die Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).(2)
5. Art. 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie betrifft die Steuerbemessungsgrundlage und lautet:
„Bei der Lieferung von Gegenständen und Dienstleistungen, die nicht unter die Artikel 74 bis 77 fallen, umfasst die Steuerbemessungsgrundlage alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer für diese Umsätze vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen.“
6. Art. 78 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt die Elemente, die in die Steuerbemessungsgrundlage einzubeziehen oder herauszurechnen sind:
„In die Steuerbemessungsgrundlage sind folgende Elemente einzubeziehen:
a) Steuern, Zölle, Abschöpfungen und Abgaben mit Ausnahme der Mehrwertsteuer selbst; …“
7. Art. 193 der Mehrwertsteuerrichtlinie definiert, wer diese Steuer schuldet:
„Die Mehrwertsteuer schuldet der Steuerpflichtige, der Gegenstände steuerpflichtig liefert oder eine Dienstleistung steuerpflichtig erbringt, außer in den Fällen, in denen die Steuer gemäß den Artikeln 194 bis 199b sowie 202 von einer anderen Person geschuldet wird.“
8. Art. 168 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie betrifft den Umfang des Vorsteuerabzugs und lautet:
„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:
a) die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden; …“
9. Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie regelt die Steuerschuld durch Ausweis in einer Rechnung.
„Die Mehrwertsteuer wird von jeder Person geschuldet, die diese Steuer in einer Rechnung ausweist.“
10. Art. 220 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie regelt die Pflicht zur Rechnungsausstellung:
„Jeder Steuerpflichtige stellt in folgenden Fällen eine Rechnung entweder selbst aus oder stellt sicher, dass eine Rechnung vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder in seinem Namen und für seine Rechnung von einem Dritten ausgestellt wird:
1. Er liefert Gegenstände oder erbringt Dienstleistungen an einen anderen Steuerpflichtigen oder an eine nichtsteuerpflichtige juristische Person; …“
B. Österreichisches Recht
11. § 11 Abs. 1 Nr. 1 des Bundesgesetzes über die Besteuerung der Umsätze (Umsatzsteuergesetz 1994 – im Folgenden: UStG) regelt die Pflicht zur Erteilung einer Rechnung:
„Führt der Unternehmer Umsätze im Sinne des § 1 Abs. 1 Z 1 aus, ist er berechtigt, Rechnungen auszustellen. Führt er die Umsätze an einen anderen Unternehmer für dessen Unternehmen oder an eine juristische Person, soweit sie nicht Unternehmer ist, aus, ist er verpflichtet, Rechnungen auszustellen. Führt der Unternehmer eine steuerpflichtige Werklieferung oder Werkleistung im Zusammenhang mit einem Grundstück an einen Nichtunternehmer aus, ist er verpflichtet eine Rechnung auszustellen. Der Unternehmer hat seiner Verpflichtung zur Rechnungsausstellung innerhalb von sechs Monaten nach Ausführung des Umsatzes nachzukommen.“
12. § 11 Abs. 12 UStG betrifft die Steuerschuld bei unberechtigtem Steuerausweis und lautet:
„Hat der Unternehmer in einer Rechnung für eine Lieferung oder sonstige Leistung einen Steuerbetrag, den er nach diesem Bundesgesetz für den Umsatz nicht schuldet, gesondert ausgewiesen, so schuldet er diesen Betrag auf Grund der Rechnung, wenn er sie nicht gegenüber dem Abnehmer der Lieferung oder dem Empfänger der sonstigen Leistung entsprechend berichtigt. Im Falle der Berichtigung gilt § 16 Abs. 1 sinngemäß.“
13. § 239a Bundesgesetz über allgemeine Bestimmungen und das Verfahren für die von den Abgabenbehörden des Bundes, der Länder und Gemeinden verwalteten Abgaben (Bundesabgabenordnung – BAO) normiert:
„Soweit eine Abgabe, die nach dem Zweck der Abgabenvorschrift wirtschaftlich von einem Anderen als dem Abgabepflichtigen getragen werden soll, wirtschaftlich von einem Anderen als dem Abgabepflichtigen getragen wurde, haben zu unterbleiben:
1. die Gutschrift auf dem Abgabenkonto,
2. die Rückzahlung, Umbuchung oder Überrechnung von Guthaben und
3. die Verwendung zur Tilgung von Abgabenschuldigkeiten,
wenn dies zu einer ungerechtfertigten Bereicherung des Abgabepflichtigen führen würde.“
III. Sachverhalt und Vorabentscheidungsverfahren
14. Die vor dem vorlegenden Gericht beschwerdeführende Partei (im Folgenden: P GmbH) ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung nach österreichischem Recht.
15. Sie betreibt einen Indoor-Spielplatz. Im Streitjahr 2019 unterzog die P GmbH das Entgelt für ihre Dienstleistungen (Eintrittsgelder zum Indoor-Spielplatz) dem österreichischen Regelsteuersatz in Höhe von 20 %. Tatsächlich unterlagen diese Dienstleistungen der P GmbH im Streitjahr 2019 jedoch dem ermäßigten Steuersatz von 13 % (einer der im Streitjahr in Österreich ermäßigten Steuersätze gemäß Art. 98 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie).
16. Die P GmbH stellte den Kunden bei Bezahlung des Entgelts Registrierkassenbelege aus, die Kleinbetragsrechnungen gemäß § 11 Abs. 6 UStG 1994 (vereinfachte Rechnungen gemäß Art. 238 in Verbindung mit Art. 226b der MwSt-Richtlinie) sind. Im Streitjahr 2019 stellte die P GmbH insgesamt 22 557 Rechnungen aus. Die Kunden der P GmbH sind im Streitjahr 2019 ausschließlich Endverbraucher, die kein Recht auf Vorsteuerabzug besitzen.
17. Die P GmbH berichtigte ihre Umsatzsteuererklärung für das Jahr 2019, um die zu viel bezahlte Umsatzsteuer vom Finanzamt gutgeschrieben zu bekommen.
18. Das Finanzamt verweigerte eine Berichtigung aus zweierlei Gründen: (1) Die P GmbH schulde die höhere Umsatzsteuer kraft Rechnungslegung, wenn sie ihre Rechnungen nicht korrigiere. (2) Nicht die P GmbH, sondern ihre Kunden seien die Träger der Umsatzsteuer. Die P GmbH würde sich daher bei Berichtigung der Umsatzsteuer bereichern.
19. Gegen diese Entscheidung legte die P GmbH Klage ein. Das dafür zuständige Bundesfinanzgericht (Österreich) hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV folgende Fragen vorgelegt:
1. Wird die Mehrwertsteuer vom Aussteller einer Rechnung gemäß Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie geschuldet, wenn – wie in einem Fall wie diesem – keine Gefährdung des Steueraufkommens vorliegen kann, weil die Leistungsempfänger der Dienstleistungen nicht zum Vorsteuerabzug berechtigte Endverbraucher sind?
2. Falls die erste Frage bejaht wird und damit der Aussteller einer Rechnung gemäß Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie die Mehrwertsteuer schuldet:
a) Kann die Berichtigung der Rechnungen gegenüber den Leistungsempfängern unterbleiben, wenn einerseits eine Gefährdung des Steueraufkommens ausgeschlossen und andererseits die Berichtigung der Rechnungen faktisch unmöglich ist?
b) Steht es der Berichtigung der Mehrwertsteuer entgegen, dass die Endverbraucher die Steuer im Rahmen des Entgeltes getragen haben und sich damit der Steuerpflichtige durch Berichtigung der Mehrwertsteuer bereichert?
20. Im Verfahren vor dem Gerichtshof haben die Republik Österreich und die Europäische Kommission schriftlich...
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