Opinion of Advocate General Ćapeta delivered on 28 April 2022.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2022:333
Date28 April 2022
Celex Number62021CC0164
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

TAMARA ĆAPETA

vom 28. April 2022(1)

Verbundene Rechtssachen C164/21 und C318/21

SIA Baltijas Starptautiskā Akadēmija

gegen

Latvijas Zinātnes padome (C164/21)

(Vorabentscheidungsersuchen der Administratīvā rajona tiesa [Bezirksverwaltungsgericht, Lettland])

und

SIA Stockholm School of Economics in Riga

gegen

Latvijas Zinātnes padome (C318/21)

(Vorabentscheidungsersuchen der Administratīvā apgabaltiesa [Regionales Verwaltungsgericht, Lettland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EU) Nr. 651/2014 – Art. 2 Nr. 83 – Forschungs‑, Entwicklungs- und Innovationsbeihilfen – Begriff der Forschungseinrichtung – Hochschule, die wirtschaftliche und nicht wirtschaftliche Tätigkeiten ausübt – Bestimmung der Haupttätigkeit“






I. Einleitung

1. Können private Hochschuleinrichtungen als Einrichtungen für Forschung und Wissensverbreitung angesehen werden? Dies ist der Kern der von der Administratīvā rajona tiesa (Bezirksverwaltungsgericht, Lettland) und der Administratīvā apgabaltiesa (Regionales Verwaltungsgericht, Lettland) vorgelegten Fragen.

2. In den vorliegenden beiden Rechtssachen wird der Gerichtshof ersucht, den Begriff „Einrichtung für Forschung und Wissensverbreitung“ in Art. 2 Nr. 83 der Allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung (im Folgenden: AGVO)(2) auszulegen.

II. Rechtlicher Rahmen

3. Art. 1 Abs. 1 Buchst. d der AGVO sieht vor, dass die AGVO u. a. für Beihilfen für Forschung und Entwicklung und Innovation gilt.

4. Zur näheren Bestimmung der mit dieser Art von Beihilfen verbundenen Konzepte definiert Art. 2 Nr. 83 der AGVO den Begriff „Einrichtung für Forschung und Wissensverbreitung“ wie folgt: „Einrichtungen wie Hochschulen oder Forschungsinstitute, Technologietransfer-Einrichtungen, Innovationsmittler, forschungsorientierte physische oder virtuelle Kooperationseinrichtungen, unabhängig von ihrer Rechtsform (öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich) oder Finanzierungsweise, deren Hauptaufgabe darin besteht, unabhängige Grundlagenforschung, industrielle Forschung oder experimentelle Entwicklung zu betreiben oder die Ergebnisse solcher Tätigkeiten durch Lehre, Veröffentlichung oder Wissenstransfer zu verbreiten. Übt eine solche Einrichtung auch wirtschaftliche Tätigkeiten aus, muss sie über deren Finanzierung, Kosten und Erlöse getrennt Buch führen. Unternehmen, die beispielsweise als Anteilseigner oder Mitglied bestimmenden Einfluss auf eine solche Einrichtung ausüben können, darf kein bevorzugter Zugang zu den von ihr erzielten Forschungsergebnissen gewährt werden.“

III. Relevanter Sachverhalt, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

5. Die beiden Rechtssachen, mit denen die vorlegenden Gerichte befasst sind, weisen einen nahezu identischen Sachverhalt auf: Die Klägerinnen sind jeweils private Hochschuleinrichtungen, die sich auf zwei verschiedene Ausschreibungen des Latvijas Zinātnes padome (Wissenschaftlicher Rat Lettlands) bewarben, um die Finanzierung von Forschungsprojekten zu erlangen.

6. In beiden Rechtssachen lehnte der Wissenschaftliche Rat Lettlands die Anträge als nicht förderfähig ab, da die Klägerinnen teilweise wirtschaftliche Tätigkeiten ausübten.

7. Die beiden Ausschreibungen für Projektvorschläge wurden gemäß dem Ministru kabineta 2017. gada 12. decembra noteikumi Nr. 725 „Fundamentālo un lietišķo pētījumu projektu izvērtēšanas un finansējuma administrēšanas kārtība“ (Dekret Nr. 725 des Ministerrats vom 12. Dezember 2017 über die Verfahren zur Beurteilung von Projekten im Bereich der Grundlagenforschung und der angewandten Forschung und die Verwaltung ihrer Finanzierung [im Folgenden: Dekret Nr. 725]) verfasst.

8. Um für die Finanzierung der Forschung in Betracht zu kommen, muss das Projekt gemäß dem Dekret Nr. 725 von einer im Register der wissenschaftlichen Einrichtungen eingetragenen wissenschaftlichen Einrichtung durchgeführt werden, die unabhängig von ihrer Rechtsform (öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich) oder Finanzierungsweise gemäß den für ihre Tätigkeiten geltenden Vorschriften (Satzung, Geschäftsordnung oder Gründungsakt) Haupttätigkeiten nicht wirtschaftlicher Art ausübt und der Definition einer „Einrichtung für Forschung und Wissensverbreitung“ gemäß Art. 2 Nr. 83 der AGVO entspricht.

A. Rechtssache C164/21

9. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, die SIA Baltijas Starptautiskā Akadēmija, erbringt Dienstleistungen der Hochschulbildung akademischer und nicht akademischer Art. Sie ist eine staatlich akkreditierte Hochschule, die gemäß dem Komerclikums (Handelsgesetzbuch) agiert, soweit es nicht dem Augstskolu likums (Hochschulgesetz) widerspricht. Einer der von der Klägerin definierten Tätigkeitsbereiche ist die wissenschaftliche Tätigkeit. Die Klägerin ist im Register der wissenschaftlichen Einrichtungen eingetragen.

10. Mit Entscheidung vom 23. Januar 2020 genehmigte der Wissenschaftliche Rat Lettlands die „Regelung der allgemeinen Ausschreibung für Grundlagenforschungsprojekte mit Geltung für das Jahr 2020“ (im Folgenden: Ausschreibungsregelung), in deren Rahmen die Klägerin einen Projektvorschlag einreichte.

11. Mit Entscheidung vom 14. April 2020 lehnte der Wissenschaftliche Rat Lettlands diesen Projektvorschlag mit der Begründung ab, dass die Klägerin keine wissenschaftliche Einrichtung im Sinne des Dekrets Nr. 725 sei.

12. Im Projektvorschlag werde angegeben, dass im Jahr 2019 der Umsatzanteil der nicht wirtschaftlichen Tätigkeiten im Verhältnis zu demjenigen der wirtschaftlichen Tätigkeiten 95 % (gegenüber 5 % für letztere Tätigkeiten) betragen habe. Jedoch bestünden 84 % des gesamten Umsatzes aus den Gebühren für die akademische Tätigkeit, die angesichts der Art der Tätigkeit der Klägerin (einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung, deren Hauptzweck in der Erzielung von Gewinnen bestehe) eine wirtschaftliche Tätigkeit darstelle. Die Haupttätigkeit der Klägerin sei folglich eine gewerbliche Tätigkeit.

13. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens focht diese Ablehnung vor dem vorlegenden Gericht an und machte geltend, dass die unabhängige Forschung ihre Haupttätigkeit darstelle. Weder in der AGVO noch in der Ausschreibungsregelung sei vorgeschrieben, dass ein Antragsteller keine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben und keinen Gewinn aus einer solchen erzielen dürfe. Es sei auch nicht geregelt, wie das Verhältnis zwischen der wirtschaftlichen und der nicht wirtschaftlichen Tätigkeit sein müsse. Die Klägerin macht geltend, sie trenne klar die Haupttätigkeiten, die nicht wirtschaftlicher Art seien, von den Tätigkeiten, die als wirtschaftliche Tätigkeiten gälten.

14. Im Rahmen dieses Verfahrens hat die Administratīvā rajona tiesa (Bezirksverwaltungsgericht) dem Gerichtshof folgende Fragen vorgelegt:

1. Kann eine (privatrechtliche) Einrichtung, die mehrere Haupttätigkeiten, einschließlich Forschung, ausübt, deren Einnahmen aber hauptsächlich aus der Erbringung von Bildungsdienstleistungen gegen Entgelt stammen, als Einrichtung im Sinne von Art. 2 Nr. 83 der AGVO eingestuft werden?

2. Ist es gerechtfertigt, auf das Verhältnis der Finanzierung (Einnahmen und Ausgaben) der wirtschaftlichen und der nicht wirtschaftlichen Tätigkeiten abzustellen, um zu ermitteln, ob die Einrichtung das in Art. 2 Nr. 83 der AGVO genannte Erfordernis erfüllt, wonach der Hauptzweck der Tätigkeiten der Einrichtung darin bestehen muss, unabhängige Grundlagenforschung, industrielle Forschung oder experimentelle Entwicklung zu betreiben oder die Ergebnisse solcher Tätigkeiten durch Lehre, Veröffentlichung oder Wissenstransfer zu verbreiten? Sollte diese Frage bejaht werden, welches Verhältnis der Finanzierung der wirtschaftlichen und der nicht wirtschaftlichen Tätigkeiten wäre dann bei der Ermittlung des Hauptzwecks der Tätigkeiten der Einrichtung angemessen?

3. Ist es im Einklang mit Art. 2 Nr. 83 der AGVO gerechtfertigt, darauf abzustellen, dass die Einnahmen aus der Haupttätigkeit in die Haupttätigkeit der betreffenden Einrichtung reinvestiert werden, und müssen weitere Aspekte gewürdigt werden, um den Hauptzweck der Tätigkeiten der das Projekt vorschlagenden Einrichtung zutreffend zu ermitteln? Würde die Verwendung der erzielten Einnahmen (Reinvestition in die Haupttätigkeit oder beispielsweise, im Fall eines privaten Gründers, Auszahlung in Form von Dividenden an die Anteilseigner) etwas an dieser Beurteilung ändern, selbst wenn sich die Einnahmen überwiegend aus Gebühren für Bildungsdienstleistungen ergeben?

4. Ist die Rechtspersönlichkeit der Mitglieder der Einrichtung, die das betreffende Projekt vorschlägt, maßgeblich, um zu beurteilen, ob diese Einrichtung unter die Begriffsbestimmung in Art. 2 Nr. 83 der AGVO fällt, d. h., kommt es darauf an, ob es sich um eine Gesellschaft handelt, die nach dem Handelsrecht zur Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit (entgeltliche Tätigkeit) mit Gewinnerzielungsabsicht gegründet wurde (Art. 1 des Komerclikums [Handelsgesetzbuch]), oder ob ihre Mitglieder oder Anteilseigner natürliche oder juristische Personen sind, die Gewinn erwirtschaften wollen (einschließlich durch die Erbringung von Bildungsdienstleistungen gegen Entgelt), oder ohne Gewinnerzielungsabsicht gegründet wurden (z. B. ein Verein oder eine Stiftung)?

5. Sind der Anteil der inländischen und der aus Mitgliedstaaten der Union stammenden Studierenden im Verhältnis zu ausländischen Studierenden (aus Drittstaaten) und der Umstand, dass der Zweck der Haupttätigkeit der das Projekt vorschlagenden Einrichtung darin besteht, den Studierenden eine Hochschulbildung und eine Qualifikation zu vermitteln, die auf dem internationalen Arbeitsmarkt wettbewerbsfähig sind und den gegenwärtigen internationalen Anforderungen entsprechen (Ziff. 5 der Satzung der Klägerin), für die Beurteilung des wirtschaftlichen Charakters der Tätigkeit dieser Einrichtung maßgeblich?

15. Die Parteien des Ausgangsverfahrens, die niederländische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen...

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