D. J. v Radiotelevizija Slovenija.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2021:182
Date09 March 2021
Docket NumberC-344/19
Celex Number62019CJ0344
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

9. März 2021(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer – Arbeitszeitgestaltung – Richtlinie 2003/88/EG – Art. 2 – Begriff ‚Arbeitszeit‘ – Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft – Spezialisierte Arbeit in Bezug auf die Wartung von Fernsehsendern, die fernab der bewohnten Gebiete liegen – Richtlinie 89/391/EWG – Art. 5 und 6 – Psychosoziale Risiken – Vorsorgepflicht“

In der Rechtssache C‑344/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Vrhovno sodišče (Oberster Gerichtshof, Slowenien) mit Entscheidung vom 2. April 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 2. Mai 2019, in dem Verfahren

D. J.

gegen

Radiotelevizija Slovenija

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Vilaras und N. Piçarra, des Richters T. von Danwitz, der Richterin C. Toader, der Richter M. Safjan, D. Šváby, S. Rodin und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe, des Richters C. Lycourgos (Berichterstatter) und der Richterin L. S. Rossi,

Generalanwalt: G. Pitruzzella,

Kanzler: M. Longar, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. Juni 2020,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– von D. J., vertreten durch M. Šafar und P. Boršnak, odvetnika,

– der Radiotelevizija Slovenija, vertreten durch E. Planinc Omerzel und G. Dernovšek, odvetnika,

– der slowenischen Regierung, vertreten durch A. Grum und N. Pintar Gosenca als Bevollmächtigte,

– der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch B. Rous Demiri, B.‑R. Killmann und M. van Beek als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. Oktober 2020

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen D. J. und der Radiotelevizija Slovenija wegen der von D. J. geforderten Vergütung für die von ihm in Form von Rufbereitschaft geleisteten Bereitschaftsdienste. Vorab ist darauf hinzuweisen, dass im Rahmen des vorliegenden Urteils der Begriff „Bereitschaft“ allgemein sämtliche Zeiträume umfasst, in denen der Arbeitnehmer seinem Arbeitgeber zur Verfügung steht, um auf dessen Verlangen eine Arbeitsleistung erbringen zu können, während mit dem Ausdruck „Rufbereitschaft“ Bereitschaftszeiten bezeichnet werden, in denen der Arbeitnehmer nicht an seinem Arbeitsplatz bleiben muss.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 89/391/EWG

3 Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 89/391/EWG des Rates vom 12. Juni 1989 über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit (ABl. 1989, L 183, S. 1) bestimmt:

„Der Arbeitgeber ist verpflichtet, für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer in Bezug auf alle Aspekte, die die Arbeit betreffen, zu sorgen.“

4 Art. 6 der Richtlinie 89/391 bestimmt:

„(1) Im Rahmen seiner Verpflichtungen trifft der Arbeitgeber die für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer erforderlichen Maßnahmen, einschließlich der Maßnahmen zur Verhütung berufsbedingter Gefahren, zur Information und zur Unterweisung sowie der Bereitstellung einer geeigneten Organisation und der erforderlichen Mittel.

Der Arbeitgeber muss darauf achten, dass diese Maßnahmen entsprechend den sich ändernden Gegebenheiten angepasst werden, und er muss eine Verbesserung der bestehenden Arbeitsbedingungen anstreben.

(2) Der Arbeitgeber setzt die Maßnahmen nach Absatz 1 Unterabsatz 1 ausgehend von folgenden allgemeinen Grundsätzen der Gefahrenverhütung um:

a) Vermeidung von Risiken;

b) Abschätzung nicht vermeidbarer Risiken;

c) Gefahrenbekämpfung an der Quelle;

(3) Unbeschadet der anderen Bestimmungen dieser Richtlinie hat der Arbeitgeber je nach Art der Tätigkeiten des Unternehmens bzw. Betriebs folgende Verpflichtungen:

a) Beurteilung von Gefahren für Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer, unter anderem bei der Auswahl von Arbeitsmitteln, chemischen Stoffen oder Zubereitungen und bei der Gestaltung der Arbeitsplätze.

Die vom Arbeitgeber aufgrund dieser Beurteilung getroffenen Maßnahmen zur Gefahrenverhütung sowie die von ihm angewendeten Arbeits- und Produktionsverfahren müssen erforderlichenfalls

– einen höheren Grad an Sicherheit und einen besseren Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer gewährleisten;

– in alle Tätigkeiten des Unternehmens bzw. des Betriebes und auf allen Führungsebenen einbezogen werden;

…“

Richtlinie 2003/88

5 Art. 1 der Richtlinie 2003/88 bestimmt:

„(1) Diese Richtlinie enthält Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung.

(2) Gegenstand dieser Richtlinie sind

a) die täglichen und wöchentlichen Mindestruhezeiten, der Mindestjahresurlaub, die Ruhepausen und die wöchentliche Höchstarbeitszeit sowie

b) bestimmte Aspekte der Nacht- und der Schichtarbeit sowie des Arbeitsrhythmus.

…“

6 Art. 2 der Richtlinie 2003/88 sieht vor:

„Im Sinne dieser Richtlinie sind:

(1) Arbeitszeit: jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt;

(2) Ruhezeit: jede Zeitspanne außerhalb der Arbeitszeit;

…“

7 Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 lautet:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.“

Slowenisches Recht

8 Art. 142 des Zakon o delovnih razmerjih (Gesetz über Arbeitsverhältnisse) vom 5. März 2013 (Uradni list RS, Nr. 21/13) bestimmt:

„(1) Arbeitszeit umfasst die effektive Arbeitszeit und die Ruhezeit gemäß Art. 154 dieses Gesetzes sowie die Zeit der entschuldigten Abwesenheit von der Arbeit gemäß Gesetz und Tarifvertrag bzw. Allgemeinem Akt.

(2) Effektive Arbeitszeit umfasst den Zeitraum, in dem der Arbeitnehmer arbeitet, was bedeutet, dass er dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Arbeitsverpflichtungen aus dem Arbeitsvertrag erfüllt.

(3) Die effektive Arbeitszeit bildet die Grundlage für die Berechnung der Arbeitsproduktivität.“

9 Art. 46 der Kolektivna pogodba za javni sektor (Tarifvertrag für den öffentlichen Sektor) vom 5. Juni 2008 (Uradni list RS, Nr. 57/08 ff.) sieht vor:

„Öffentlichen Bediensteten steht für Bereitschaftsdienst ein Zuschlag in Höhe von 20 % des Stundensatzes des Grundgehalts zu. Bei öffentlichen Bediensteten zählt der Bereitschaftsdienst nicht als Arbeitszeit.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

10 Vom 1. August 2008 bis zum 31. Januar 2015 war D. J. als spezialisierter Techniker in den Sendeanlagen von Pohorje (Slowenien) und dann von Krvavec (Slowenien) beschäftigt. Die Art der Arbeit, die Entfernung der Sendeanlagen von seinem Wohnort sowie der zeitweise erschwerte Zugang zu ihnen machten seinen Aufenthalt in der Nähe der betreffenden Standorte erforderlich. Einer der beiden Standorte war im Übrigen so weit vom Wohnort von D. J. entfernt, dass es ihm selbst unter günstigsten Wetterbedingungen unmöglich gewesen wäre, sich täglich dorthin zu begeben. Die Arbeitgeberin von D. J. ermöglichte in den Gebäuden der beiden Sendeanlagen den Aufenthalt von D. J. und eines anderen Technikers, die dort jeweils beide zugleich anwesend waren. Nach Erbringung ihrer Arbeitsverpflichtungen konnten sich die beiden Techniker in den Aufenthaltsräumen ausruhen oder in der Umgebung Freizeitaktivitäten nachgehen.

11 Die beiden Techniker arbeiteten in zwei Schichten von 6 Uhr bis 18 Uhr und von Mittag bis Mitternacht, wobei D. J. meist die zweite Schicht übernahm. Bei der Arbeit in dieser Schicht handelte es sich um „reguläre Arbeit“, die seine Anwesenheit am Arbeitsplatz erforderte.

12 Die Arbeitgeberin von D. J. berechnete dessen Gehalt auf der Grundlage dieser zwölf Stunden „regulärer Arbeit“, ohne die Ruhezeit zu vergüten, die sich in der Regel von Mitternacht bis 6 Uhr morgens erstreckte, während die verbleibenden sechs Stunden als Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft angesehen wurden.

13 Während der Bereitschaftszeit konnte der Arbeitnehmer die betreffende Sendeanlage verlassen. Er musste jedoch telefonisch erreichbar und in der Lage sein, sich bei Bedarf innerhalb einer Stunde wieder an seinem Arbeitsplatz einzufinden. Nur dringende Tätigkeiten waren sofort auszuführen, die übrigen Tätigkeiten konnten am Folgetag ausgeführt werden. Die Arbeitgeberin von D. J. zahlte ihm für die Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft eine Entschädigung in Höhe von 20 % seines normalen Gehalts. Musste D. J. in diesem Zeitraum tätig werden, wurde die dafür erforderliche Zeit jedoch als reguläre Arbeit angerechnet und bezahlt.

14 D. J. erhob Klage mit dem Ziel, für die Stunden, in denen er Bereitschaftsdienst in Form von Rufbereitschaft geleistet hatte, eine Vergütung in gleicher Höhe wie für Arbeitsstunden über die reguläre Arbeitszeit hinaus zu erhalten, unabhängig davon, ob er während des Bereitschaftsdiensts konkrete Arbeiten verrichtete. Er stützte seine Klage darauf, dass er am Ort der Arbeitserbringung gelebt habe und daher de facto 24 Stunden am Tag am Arbeitsplatz anwesend gewesen sei. In Anbetracht der Art seiner Arbeit und des Umstands, dass er sich in den Sendeanlagen aufgehalten habe, habe er nicht frei über seine Zeit verfügen können, u. a., weil er...

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