ÖBB-Infrastruktur Aktiengesellschaft contra Lokomotion Gesellschaft für Schienentraktion mbH.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2022:563
Date14 July 2022
Docket NumberC-500/20
Celex Number62020CJ0500
CourtCourt of Justice (European Union)

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

14. Juli 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Internationale Übereinkünfte – Schienenverkehr – Übereinkommen über den internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF) – Einheitliche Rechtsvorschriften für den Vertrag über die Nutzung der Infrastruktur im internationalen Eisenbahnverkehr (CUI) – Art. 4 – Zwingendes Recht – Art. 8 – Haftung des Betreibers – Art. 19 – Sonstige Ansprüche – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Beschädigung von Lokomotiven des Beförderers aufgrund einer Entgleisung – Anmietung von Ersatzlokomotiven – Verpflichtung des Infrastrukturbetreibers zur Erstattung der Mietkosten – Vertrag, der durch einen Verweis auf das nationale Recht die Erweiterung der Haftung der Parteien vorsieht“

In der Rechtssache C‑500/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Obersten Gerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 6. August 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Oktober 2020, in dem Verfahren

ÖBB-Infrastruktur Aktiengesellschaft

gegen

Lokomotion Gesellschaft für Schienentraktion mbH

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter I. Jarukaitis (Berichterstatter), M. Ilešič, D. Gratsias und Z. Csehi,

Generalanwältin: T. Ćapeta,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der ÖBB-Infrastruktur Aktiengesellschaft, vertreten durch Rechtsanwältin J. Andras und Rechtsanwalt A. Egger,

– der Lokomotion Gesellschaft für Schienentraktion mbH, vertreten durch die Rechtsanwälte G. Horak und A. Stolz,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Mölls, C. Vrignon und G. Wilms als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 3. Februar 2022

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Übereinkommens über den internationalen Eisenbahnverkehr vom 9. Mai 1980 in der Fassung des Änderungsprotokolls von Vilnius vom 3. Juni 1999 (im Folgenden: COTIF), insbesondere der Art. 4, Art. 8 § 1 Buchst. b und Art. 19 § 1 des Anhangs E zum COTIF („Einheitliche Rechtsvorschriften für den Vertrag über die Nutzung der Infrastruktur im internationalen Eisenbahnverkehr [CUI]“) (im Folgenden: Anhang E [CUI]).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der ÖBB-Infrastruktur AG, die ein österreichisches Unternehmen und Schieneninfrastrukturbetreiberin ist, und der Lokomotion Gesellschaft für Schienentraktion mbH (im Folgenden: Lokomotion Gesellschaft), einem deutschen Eisenbahnunternehmen, über einen Schadenersatzanspruch infolge eines Unfalls auf einer von ÖBB-Infrastruktur betriebenen Schienenanlage.

Rechtlicher Rahmen

Internationales Recht

COTIF

3 Das COTIF ist am 1. Juli 2006 in Kraft getreten. Die 49 Staaten, die Parteien des COTIF sind, darunter alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit Ausnahme der Republik Zypern und der Republik Malta, bilden die Zwischenstaatliche Organisation für den internationalen Eisenbahnverkehr (OTIF).

4 Gemäß Art. 2 § 1 COTIF besteht das Ziel der OTIF darin, den internationalen Eisenbahnverkehr in jeder Hinsicht zu fördern, zu verbessern und zu erleichtern; zu diesem Zweck stellt sie insbesondere einheitliche Regime für verschiedene Rechtsbereiche des internationalen Eisenbahnverkehrs auf, wie etwa in Bezug auf Verträge über die Nutzung der Infrastruktur.

5 In Art. 6 („Einheitliche Rechtsvorschriften“) § 1 COTIF heißt es:

„Sofern keine Erklärungen oder Vorbehalte gemäß Artikel 42 § 1 Satz 1 abgegeben oder eingelegt worden sind, finden im internationalen Eisenbahnverkehr und bei der technischen Zulassung von Eisenbahnmaterial zur Verwendung im internationalen Verkehr Anwendung:

e) die ‚Einheitlichen Rechtsvorschriften für den Vertrag über die Nutzung der Infrastruktur im internationalen Eisenbahnverkehr (CUI)‘, Anhang E [(CUI)],

…“

6 Art. 4 des Anhangs E (CUI) sieht vor:

„Soweit diese Einheitlichen Rechtsvorschriften es nicht ausdrücklich zulassen, ist jede Vereinbarung, die unmittelbar oder mittelbar von diesen Einheitlichen Rechtsvorschriften abweicht, nichtig und ohne Rechtswirkung. Die Nichtigkeit solcher Vereinbarungen hat nicht die Nichtigkeit der übrigen Bestimmungen des Vertrages zur Folge. Dessen ungeachtet können die Parteien des Vertrages ihre Haftung und ihre Verpflichtungen, die sich aus diesen Einheitlichen Rechtsvorschriften ergeben, erweitern oder die Haftung für Sachschäden der Höhe nach begrenzen.“

7 Art. 8 des Anhangs E (CUI) bestimmt:

„§ 1 Der Betreiber haftet für

a) Personenschäden (Tötung, Verletzung oder sonstige Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Gesundheit),

b) Sachschäden (Zerstörung oder Beschädigung beweglicher und unbeweglicher Sachen),

c) Vermögensschäden, die sich daraus ergeben, dass der Beförderer Entschädigungen gemäß den Einheitlichen Rechtsvorschriften [für den Vertrag über die internationale Eisenbahnbeförderung von Personen und Gepäck (CIV)] und den Einheitlichen Rechtsvorschriften [für den Vertrag über die internationale Eisenbahnbeförderung von Gütern (CIM)] zu leisten hat,

die der Beförderer oder seine Hilfspersonen während der Nutzung der Infrastruktur erleiden und die ihre Ursache in der Infrastruktur haben.

§ 4 Die Parteien des Vertrages können Vereinbarungen darüber treffen, ob und inwieweit der Betreiber für Schäden, die dem Beförderer durch Verspätung oder Betriebsstörungen entstehen, haftet.“

8 Art. 19 § 1 des Anhangs E (CUI) lautet:

„In allen Fällen, auf welche diese Einheitlichen Rechtsvorschriften Anwendung finden, kann ein Anspruch auf Schadenersatz, auf welchem Rechtsgrund er auch beruht, gegen den Betreiber oder gegen den Beförderer nur unter den Voraussetzungen und Beschränkungen dieser Einheitlichen Rechtsvorschriften geltend gemacht werden.“

Erläuternde Bemerkungen zu Anhang E (CUI)

9 In den Erläuternden Bemerkungen zu Anhang E (CUI) der OTIF-Generalversammlung (AG 12/13 Add. 8) vom 30. September 2015 (im Folgenden: Erläuternde Bemerkungen) wird zu Art. 4 des Anhangs E (CUI) ausgeführt:

„1. Grundsätzlich haben die [Einheitlichen Rechtsvorschriften] CUI zwingenden Rechtscharakter und gehen damit landesrechtlichen Bestimmungen vor. Die Formulierung lehnt sich an den Wortlaut des Artikels 5 [der Einheitlichen Rechtsvorschriften] CIM an.

2. Hinsichtlich der wirtschaftlichen Bedingungen des Nutzungsvertrages herrscht Vertragsfreiheit.

3. Der letzte Satz, der wörtlich aus Artikel 5 [der Einheitlichen Rechtsvorschriften] CIM übernommen wurde, ermöglicht es den Parteien des Vertrages, ihre Haftung zu erweitern. …“

10 Zu Art. 8 des Anhangs E (CUI) heißt es in den Erläuternden Bemerkungen:

„1. § 1 legt den Grundsatz der objektiven (strikten) Haftung des Betreibers der Infrastruktur fest. Der Geschädigte (Beförderer oder seine Hilfsperson) hat die Schadensursache (Mängel beim Betrieb der oder an der Infrastruktur) und die Schadenshöhe zu beweisen; er hat ferner zu beweisen, dass der Schaden während der Dauer der Nutzung der Infrastruktur verursacht wurde. …

2. § 1 Buchst. b) stellt klar, dass die Haftung für Sachschäden die Haftung für sogenannte (reine) Vermögensschäden nicht umfasst. Ausgenommen sind gemäß § 1 Buchst. c) Vermögensschäden, die sich daraus ergeben, dass der Beförderer Entschädigungen gemäß den [Einheitlichen Rechtsvorschriften] CIV oder [den Einheitlichen Rechtsvorschriften] CIM zu leisten hat. Schäden an Beförderungsmitteln sind Sachschäden, die der Beförderer unmittelbar erleidet, selbst wenn diese Beförderungsmittel nicht sein zivilrechtliches Eigentum sind, sondern er darüber auf Grund eines Vertrages gemäß den [Einheitlichen Rechtsvorschriften für Verträge über die Verwendung von Wagen im internationalen Eisenbahnverkehr (CUV)] verfügt.“

11 In den Erläuternden Bemerkungen wird zu Art. 19 des Anhangs E (CUI) außerdem festgehalten:

„Dieser Artikel bezweckt, das gesetzlich geregelte Haftungssystem für die vertraglichen Ansprüche durch die Einschränkung außervertraglicher Ansprüche auch Dritter umfassend vor einer Aushöhlung in den Fällen zu schützen, in denen andernfalls eine Vertragspartei auf außervertraglicher Grundlage unbegrenzt in Anspruch genommen werden könnte. …“

Beitrittsvereinbarung

12 Die am 23. Juni 2011 in Bern unterzeichnete Vereinbarung zwischen der Europäischen Union und der Zwischenstaatlichen Organisation für den Internationalen Eisenbahnverkehr über den Beitritt der Europäischen Union zum COTIF (ABl. 2013, L 51, S. 8, im Folgenden: Beitrittsvereinbarung) trat gemäß ihrem Art. 9 am 1. Juli 2011 in Kraft.

13 Art. 2 der Beitrittsvereinbarung bestimmt:

„Unbeschadet des Ziels und des Zwecks des [COTIF], den grenzüberschreitenden Eisenbahnverkehr zu fördern, zu verbessern und zu erleichtern, sowie unbeschadet seiner uneingeschränkten Anwendung gegenüber anderen Vertragsparteien des [COTIF] wenden Vertragsparteien des [COTIF], die Mitgliedstaaten der Union sind, in ihren Beziehungen untereinander die Rechtsvorschriften der Union an und wenden dementsprechend nicht die Vorschriften aufgrund des [COTIF] an, außer wenn für den betreffenden Gegenstand keine Unionsvorschriften bestehen.“

14 Art. 7 der Beitrittsvereinbarung lautet:

„Der Umfang der Zuständigkeiten der Union wird in allgemeiner Form in einer schriftlichen Erklärung festgehalten, welche die Union zum Zeitpunkt des Abschlusses dieser Vereinbarung abgibt. Diese Erklärung kann bei Bedarf durch eine entsprechende Notifikation der Union an die OTIF geändert werden. Sie ersetzt oder beschränkt nicht die Angelegenheiten, zu denen gegebenenfalls Notifikationen über die Zuständigkeit der Union erfolgen, bevor bei der OTIF durch förmliche Abstimmung oder ein anderes Verfahren ein Beschluss gefasst wird.“

Unionsrecht

Beschluss 2013/103/EU

15 Die Beitrittsvereinbarung wurde durch den Beschluss 2013/103/EU des Rates vom 16. Juni 2011 über die Unterzeichnung und den Abschluss der Vereinbarung zwischen der Europäischen Union und der...

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