P.I. v Migracijos departamentas prie Lietuvos Respublikos vidaus reikalų ministerijos.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2023:13
Date12 January 2023
Docket NumberC-280/21
Celex Number62021CJ0280
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

12. Januar 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Gemeinsame Politik im Bereich Asyl – Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling – Richtlinie 2011/95/EU – Art. 10 Abs. 1 Buchst. e und Abs. 2 – Verfolgungsgründe – Begriffe ‚politische Überzeugung‘ und ‚zugeschriebene politische Überzeugung‘ – Versuche eines Asylbewerbers, sich in seinem Herkunftsland mit rechtlichen Mitteln gegen illegal operierende nicht staatliche Akteure zu wehren, die in der Lage sind, den Repressionsapparat des betreffenden Staates zu instrumentalisieren“

In der Rechtssache C‑280/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht Litauens) mit Entscheidung vom 21. April 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 30. April 2021, in dem Verfahren

P. I.

gegen

Migracijos departamentas prie Lietuvos Respublikos vidaus reikalų ministerijos

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe sowie der Richter M. Safjan, N. Piçarra (Berichterstatter), N. Jääskinen und M. Gavalec,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– von P. I., vertreten durch L. Biekša, Advokatas,

– der litauischen Regierung, vertreten durch K. Dieninis und V. Kazlauskaitė-Švenčionienė als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma und A. Steiblytė als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. Juni 2022

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 10 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen P. I. und dem Migracijos departamentas prie Lietuvos Respublikos vidaus reikalų ministerijos (Migrationsbehörde beim Innenministerium der Republik Litauen, im Folgenden: Migrationsbehörde) über dessen Ablehnung, P. I. als Flüchtling anzuerkennen.

Rechtlicher Rahmen

Völkerrecht

3 Das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnete und am 22. April 1954 in Kraft getretene Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) in der durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene und am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ergänzten Fassung (im Folgenden: Genfer Konvention) bestimmt in Art. 1 Abschnitt A Nr. 2 Unterabs. 1, dass der Ausdruck „Flüchtling“ auf jede Person Anwendung findet, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will“.

Unionsrecht

4 Die Erwägungsgründe 4, 12, 16 und 29 der Richtlinie 2011/95 lauten:

„(4) Die Genfer Flüchtlingskonvention und das Protokoll stellen einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen dar.

(12) Das wesentliche Ziel dieser Richtlinie besteht darin, einerseits zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich Schutz benötigen, und andererseits sicherzustellen, dass diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird.

(16) Diese Richtlinie achtet die Grundrechte und befolgt insbesondere die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannten Grundsätze. Sie zielt insbesondere darauf ab, die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde und des Asylrechts für Asylsuchende und die sie begleitenden Familienangehörigen sicherzustellen sowie die Anwendung der Artikel 1, 7, 11, 14, 15, 16, 18, 21, 24, 34 und 35 der Charta zu fördern, und sollte daher entsprechend umgesetzt werden.

(29) Eine der Voraussetzungen für die Flüchtlingseigenschaft im Sinne von Artikel 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention ist das Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen den Gründen der Verfolgung, nämlich Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, und den Verfolgungshandlungen oder dem fehlenden Schutz vor solchen Handlungen.“

5 Art. 2 Buchst. d dieser Richtlinie übernimmt für deren Zwecke die Definition des Begriffs „Flüchtling“ in Art. 1 Abschnitt A Nr. 2 Unterabs. 1 der Genfer Konvention, und in Art. 2 Buchst. e der Richtlinie wird die „Flüchtlingseigenschaft“ als „die Anerkennung eines Drittstaatsangehörigen oder eines Staatenlosen als Flüchtling durch einen Mitgliedstaat“ definiert.

6 Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2011/95 definiert den Begriff „Antrag auf internationalen Schutz“ als „das Ersuchen eines Drittstaatsangehörigen … um Schutz durch einen Mitgliedstaat, wenn davon ausgegangen werden kann, dass der Antragsteller die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des subsidiären Schutzstatus anstrebt“, und Art. 2 Buchst. i der Richtlinie definiert den Begriff „Antragsteller“ als „einen Drittstaatsangehörigen …, der einen [solchen Antrag] gestellt hat, über den noch keine rechtskräftige Entscheidung ergangen ist“.

7 Art. 4 („Prüfung der Tatsachen und Umstände“) Abs. 3 und 5 der Richtlinie bestimmt:

„(3) Die Anträge auf internationalen Schutz sind individuell zu prüfen, wobei Folgendes zu berücksichtigen ist:

a) alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, einschließlich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Herkunftslandes und der Weise, in der sie angewandt werden;

b) die maßgeblichen Angaben des Antragstellers und die von ihm vorgelegten Unterlagen, einschließlich Informationen zu der Frage, ob er verfolgt worden ist bzw. verfolgt werden könnte oder einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. erleiden könnte;

(5) Wenden die Mitgliedstaaten den Grundsatz an, wonach der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz begründen muss, und fehlen für Aussagen des Antragstellers Unterlagen oder sonstige Beweise, so bedürfen diese Aussagen keines Nachweises, wenn

a) der Antragsteller sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen;

b) alle dem Antragsteller verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen und eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben wurde;

c) festgestellt wurde, dass die Aussagen des Antragstellers kohärent und plausibel sind und zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen;

d) der Antragsteller internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat, es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war; und

e) die generelle Glaubwürdigkeit des Antragstellers festgestellt worden ist.“

8 Art. 6 Buchst. a und c der Richtlinie bezeichnet als „Akteure, von denen die Verfolgung ausgehen kann“, den Staat und „nichtstaatliche Akteure“, sofern der Staat erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens ist, Schutz vor Verfolgung bzw. ernsthaftem Schaden zu bieten.

9 In Art. 9 („Verfolgungshandlungen“) der Richtlinie 2011/95 heißt es:

„(1) Um als Verfolgung im Sinne des Artikels 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention zu gelten, muss eine Handlung

a) aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sein, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt, insbesondere der Rechte...

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