PJ v Agenzia delle dogane e dei monopoli - Ufficio dei monopoli per la Toscana and Ministero dell'Economia e delle Finanze.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2022:111
Date24 February 2022
Docket NumberC-452/20
Celex Number62020CJ0452
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

24. Februar 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsangleichung – Richtlinie 2014/40/EU – Art. 23 Abs. 2 – Rahmenübereinkommen der Weltgesundheitsorganisation zur Eindämmung des Tabakkonsums – Verbot des Verkaufs von Tabakerzeugnissen an Minderjährige – Sanktionssystem – Wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen – Verpflichtung für die Verkäufer von Tabakerzeugnissen, bei deren Verkauf das Alter des Käufers zu überprüfen – Bußgeld – Betrieb einer Tabakverkaufsstelle – Aussetzung der Betriebslizenz für einen Zeitraum von 15 Tagen – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – Vorsorgeprinzip“

In der Rechtssache C‑452/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) mit Entscheidung vom 5. August 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 23. September 2020, in dem Verfahren

PJ

gegen

Agenzia delle dogane e dei monopoli - Ufficio dei monopoli per la Toscana,

Ministero dell’Economia e delle Finanze

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev (Berichterstatter), der Richterin I. Ziemele sowie der Richter T. von Danwitz, P. G. Xuereb und A. Kumin,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– von PJ, vertreten durch A. Celotto, Avvocato,

– der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von A. Collabolletta, Avvocato dello Stato,

– der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Fehér, G. Koós und R. Kissné Berta als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Hödlmayr und A. Spina als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Oktober 2021

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, des Vorsorgeprinzips, des Art. 5 EUV sowie der Erwägungsgründe 8, 21 und 60, des Art. 1 und des Art. 23 Abs. 3 der Richtlinie 2014/40/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen und verwandten Erzeugnissen und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/37/EG (ABl. 2014, L 127, S. 1, berichtigt in ABl. 2015, L 150, S. 24).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen PJ und der Agenzia delle Dogane e dei Monopoli – Ufficio dei monopoli per la Toscana (Zoll- und Monopolagentur – Monopolagentur für die Toskana, Italien) (im Folgenden: Zollagentur) sowie dem Ministero dell’economia e delle finanze (Wirtschafts- und Finanzminister, Italien) über die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung der Zollagentur, mit der diese gegen PJ ein Bußgeld und eine zusätzliche Verwaltungssanktion verhängt hat, die in der 15-tägigen Aussetzung seiner Lizenz zum Betrieb einer Tabakverkaufsstelle bestand.

Rechtlicher Rahmen

Völkerrecht

3 Das am 21. Mai 2003 in Genf unterzeichnete Rahmenübereinkommen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Eindämmung des Tabakkonsums (im Folgenden: FCTC) wurde mit dem Beschluss 2004/513/EG des Rates vom 2. Juni 2004 (ABl. 2004, L 213, S. 8) im Namen der Europäischen Union genehmigt. Nach der Präambel des FCTC erkennen die Vertragsstaaten des Rahmenübereinkommens an, dass „wissenschaftliche Untersuchungen eindeutig bewiesen haben, dass Tabakkonsum und Passivrauchen zu Tod, Krankheit und Invalidität führen und dass tabakbedingte Krankheiten zeitlich verzögert nach dem Rauchen und anderen Formen des Gebrauchs von Tabakerzeugnissen auftreten“.

4 Art. 16 Abs. 1 und 6 FCTC sieht vor:

„(1) Jede Vertragspartei beschließt wirksame gesetzgeberische, vollziehende, administrative oder sonstige Maßnahmen auf der geeigneten staatlichen Ebene und führt solche Maßnahmen durch, um den Verkauf von Tabakerzeugnissen an Personen unter dem durch internes oder innerstaatliches Recht festgelegten Alter oder unter einem Alter von 18 Jahren zu verhindern. Diese Maßnahmen können Folgendes umfassen:

a) Vorschriften, dass alle Verkäufer von Tabakerzeugnissen in ihrer Verkaufsstelle einen klaren und deutlich sichtbaren Hinweis auf das Verbot der Abgabe von Tabakerzeugnissen an Minderjährige anbringen und im Zweifelsfall verlangen, dass jeder Käufer von Tabakerzeugnissen in geeigneter Form nachweist, dass er volljährig ist;

b) Verbot des Verkaufs von Tabakerzeugnissen in einer Art und Weise, bei der sie direkt zugänglich sind, zum Beispiel in Warenregalen;

c) Verbot der Herstellung und des Verkaufs von Süßigkeiten, Snacks, Spielzeug oder sonstigen Gegenständen in der Form von Tabakerzeugnissen, die Minderjährige ansprechen, und

d) Sicherstellung, dass Zigarettenautomaten in ihrem Hoheitsbereich für Minderjährige nicht zugänglich sind und nicht für den Verkauf von Tabakerzeugnissen an Minderjährige werben.

(6) Jede Vertragspartei beschließt wirksame gesetzgeberische, vollziehende, administrative oder sonstige Maßnahmen, einschließlich Strafen gegen Verkäufer und Händler, und führt solche Maßnahmen durch, um die Einhaltung der in den Absätzen 1 bis 5 enthaltenen Verpflichtungen sicherzustellen.“

Unionsrecht

5 In den Erwägungsgründen 7, 8, 21, 48 und 60 der Richtlinie 2014/40 heißt es:

„(7) Gesetzliche Maßnahmen auf Unionsebene sind außerdem notwendig, um das [FCTC] vom Mai 2003 umzusetzen, dessen Bestimmungen für die Union und ihre Mitgliedstaaten bindend sind. Besonders relevant sind die FCTC‑Regelung bezüglich der Inhaltsstoffe von Tabakerzeugnissen, der Bekanntgabe von Angaben über Tabakerzeugnisse, Verpackung und Etikettierung von Tabakerzeugnissen, Tabakwerbung, Förderung des Tabakverkaufs und Tabaksponsoring und dem unerlaubten Handel mit Tabakerzeugnissen. Die Vertragsparteien des FCTC, einschließlich der Union und ihrer Mitgliedstaaten, haben im Verlauf mehrerer Konferenzen einvernehmlich Leitlinien für die Umsetzung einiger FCTC‑Artikel angenommen.

(8) Gemäß Artikel 114 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) soll im Gesundheitsbereich bei Gesetzgebungsvorschlägen von einem hohen Schutzniveau ausgegangen werden, wobei insbesondere alle auf wissenschaftliche Ergebnisse gestützten neuen Entwicklungen zu berücksichtigen sind. Tabakerzeugnisse sind keine gewöhnlichen Erzeugnisse, und angesichts der besonders schädlichen Wirkungen von Tabakerzeugnissen auf die menschliche Gesundheit sollte dem Gesundheitsschutz große Bedeutung beigemessen werden, insbesondere um die Verbreitung des Rauchens bei jungen Menschen zu senken.

(21) Im Einklang mit dem Zweck dieser Richtlinie, nämlich das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts für Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse zu erleichtern – ausgehend von einem hohen Gesundheitsschutzniveau besonders für junge Menschen –, und im Einklang mit der Empfehlung 2003/54/EG des Rates [vom 2. Dezember 2002 zur Prävention des Rauchens und für Maßnahmen zur gezielteren Eindämmung des Tabakkonsums (ABl. 2003, L 22, S. 31)] sollten die Mitgliedstaaten dazu angehalten werden, den Verkauf dieser Erzeugnisse an Kinder und Jugendliche zu verhindern, indem sie geeignete Maßnahmen zur Festlegung und Durchsetzung von Altersgrenzen erlassen.

(48) Ferner werden mit dieser Richtlinie weder die Vorschriften über rauchfreie Zonen oder heimische Verkaufsmodalitäten oder heimischer Werbung oder ‚brand-stretching‘ (Verwendung von Tabak-Markennamen bei anderen tabakfremden Produkten oder Dienstleistungen) harmonisiert noch wird mit ihr eine Altersgrenze für elektronische Zigaretten oder Nachfüllbehälter eingeführt. In jedem Fall sollte die Aufmachung elektronischer Zigaretten oder Nachfüllbehälter und die Werbung dafür nicht zur Förderung des Tabakkonsums oder zu Verwechslungen mit Tabakerzeugnissen führen. Den Mitgliedstaaten steht es frei, diese Angelegenheiten in den Grenzen ihrer eigenen Zuständigkeit zu regeln, und sie werden dazu ermutigt, dies zu tun.

(60) Da die Ziele dieser Richtlinie, nämlich die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen und verwandten Erzeugnissen, von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs und ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind, kann die Union im Einklang mit dem in Artikel 5 EUV verankerten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. Entsprechend dem in demselben Artikel genannten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geht diese Richtlinie nicht über das für die Verwirklichung dieser Ziele erforderliche Maß hinaus …“

6 Art. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Ziel dieser Richtlinie ist die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für

a) die Inhaltsstoffe und Emissionen von Tabakerzeugnissen und die damit verbundenen Meldepflichten, einschließlich der Emissionshöchstwerte von Teer, Nikotin und Kohlenmonoxid von Zigaretten;

b) bestimmte Aspekte der Kennzeichnung und Verpackung von Tabakerzeugnissen, unter anderem die gesundheitsbezogenen Warnhinweise, die auf den Packungen und den Außenverpackungen von Tabakerzeugnissen erscheinen müssen, sowie die Rückverfolgbarkeit und die Sicherheitsmerkmale, die für Tabakerzeugnisse angewendet werden, um ihre Übereinstimmung mit dieser Richtlinie zu gewährleisten;

c) das Verbot des Inverkehrbringens von Tabak zum oralen Gebrauch;

d) den...

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