Procureur de la République v K.B. and F.S.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2023:498
Celex Number62021CJ0660
Date22 June 2023
Docket NumberC-660/21
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

22. Juni 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie 2012/13/EU – Art. 3 und 4 – Verpflichtung der zuständigen Behörden, Verdächtige und beschuldigte Personen umgehend über ihr Recht auf Aussageverweigerung zu belehren – Art. 8 Abs. 2 – Recht, einen Verstoß gegen diese Verpflichtung zu rügen – Nationale Regelung, die es dem Strafrichter des Hauptverfahrens verbietet, einen solchen Verstoß von Amts wegen zu prüfen – Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“

In der Rechtssache C‑660/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal correctionnel de Villefranche-sur-Saône (Strafgericht Villefranche-sur-Saône, Frankreich) mit Entscheidung vom 26. Oktober 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Oktober 2021, in dem Strafverfahren

Procureur de la République

gegen

K. B.,

F. S.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, C. Lycourgos, E. Regan, M. Safjan (Berichterstatter) und P. G. Xuereb, der Kammerpräsidentin L. S. Rossi, des Kammerpräsidenten D. Gratsias und der Kammerpräsidentin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter S. Rodin, F. Biltgen und N. Piçarra, der Richterin I. Ziemele und des Richters J. Passer,

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: S. Beer, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. September 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– von K. B., vertreten durch C. Lallich und B. Thellier de Poncheville, Avocats,

– von F. S., vertreten durch B. Thellier de Poncheville und S. Windey, Avocates,

– der französischen Regierung, vertreten durch A. Daniel und A.‑L. Desjonquères als Bevollmächtigte,

– von Irland, vertreten durch M. Browne, Chief State Solicitor, A. Joyce, M. Lane und J. Quaney als Bevollmächtigte im Beistand von R. Farrell, SC, D. Fennelly, BL, und P. Gallagher, SC,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma und M. Wasmeier als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. Januar 2023

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 3 und 4 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. 2012, L 142, S. 1), von Art. 7 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1) und von Art. 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2 Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen K. B. und F. S. wegen Kraftstoffdiebstahls.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2012/13

3 In den Erwägungsgründen 3, 4, 10, 14, 19 und 36 der Richtlinie 2012/13 heißt es:

„(3) Die Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen in Strafsachen setzt gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweilige Strafrechtspflege voraus. Das Maß der gegenseitigen Anerkennung hängt von einer Reihe von Parametern ab; dazu gehören Mechanismen für den Schutz der Rechte von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen sowie gemeinsame Mindestnormen, die erforderlich sind, um die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung zu erleichtern.

(4) Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen kann nur in einem Klima des Vertrauens vollständig zum Tragen kommen, in dem nicht nur die Justizbehörden, sondern alle an Strafverfahren beteiligten Akteure Entscheidungen der Justizbehörden anderer Mitgliedstaaten als denen ihrer eigenen Justizbehörden gleichwertig ansehen; dies setzt nicht nur Vertrauen in die Angemessenheit der Rechtsvorschriften anderer Mitgliedstaaten voraus, sondern auch Vertrauen in die ordnungsgemäße Anwendung dieser Vorschriften.

(10) Gemeinsame Mindestvorschriften sollten das Vertrauen in die Strafrechtspflege aller Mitgliedstaaten stärken, was wiederum zu einer wirksameren Zusammenarbeit der Justizbehörden in einem Klima gegenseitigen Vertrauens führen sollte. Solche gemeinsamen Mindestvorschriften sollten im Bereich der Belehrung in Strafverfahren festgelegt werden.

(14) Die vorliegende Richtlinie … legt gemeinsame Mindestnormen fest, die bei der Belehrung über die Rechte und bei der Unterrichtung über den Tatvorwurf gegenüber Personen, die der Begehung einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt werden, anzuwenden sind, um das Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten zu verstärken. Diese Richtlinie baut auf den in der Charta verankerten Rechten auf, insbesondere auf den Artikeln 6, 47 und 48 der Charta, und legt dabei die Artikel 5 und 6 [der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten] in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zugrunde. …

(19) Die zuständigen Behörden sollten Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend mündlich oder schriftlich gemäß dieser Richtlinie über die nach innerstaatlichem Recht vorgesehenen Verfahrensrechte, die für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens wesentlich sind, belehren. Damit die betreffenden Rechte zweckmäßig und wirksam ausgeübt werden können, sollte diese Belehrung umgehend im Laufe des Verfahrens und spätestens vor der ersten offiziellen Vernehmung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person durch die Polizei oder eine andere zuständige Behörde erfolgen.

(36) Verdächtige oder beschuldigte Personen oder ihre Rechtsanwälte sollten das Recht haben, ein etwaiges Versäumnis oder eine etwaige Verweigerung der Belehrung oder Unterrichtung oder der Offenlegung von bestimmten Unterlagen gemäß dieser Richtlinie durch die zuständigen Behörden nach dem innerstaatlichen Recht anzufechten. Dieses Recht zieht nicht die Verpflichtung der Mitgliedstaaten nach sich, ein besonderes Rechtsbehelfsverfahren, einen gesonderten Mechanismus oder ein Beschwerdeverfahren vorzusehen, in dessen Rahmen das Versäumnis oder die Verweigerung angefochten werden kann.“

4 Art. 3 („Recht auf Rechtsbelehrung“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend mindestens über folgende Verfahrensrechte in ihrer Ausgestaltung nach dem innerstaatlichen Recht belehrt werden, um die wirksame Ausübung dieser Rechte zu ermöglichen:

a) das Recht auf Hinzuziehung eines Rechtsanwalts;

b) den etwaigen Anspruch auf unentgeltliche Rechtsberatung und die Voraussetzungen für diese Rechtsberatung;

c) das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf gemäß Artikel 6;

d) das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen;

e) das Recht auf Aussageverweigerung.

(2) Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die in Absatz 1 vorgesehene Rechtsbelehrung entweder mündlich oder schriftlich in einfacher und verständlicher Sprache erfolgt, wobei etwaige besondere Bedürfnisse schutzbedürftiger Verdächtiger oder schutzbedürftiger beschuldigter Personen berücksichtigt werden.

5 Art. 4 („Schriftliche Erklärung der Rechte bei Festnahme“) der Richtlinie sieht vor:

„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, die festgenommen oder inhaftiert werden, umgehend eine schriftliche Erklärung der Rechte erhalten. Sie erhalten Gelegenheit, die Erklärung der Rechte zu lesen, und dürfen diese Erklärung während der Dauer des Freiheitsentzugs in ihrem Besitz führen.

(2) Zusätzlich zu der Belehrung gemäß Artikel 3 enthält die in Absatz 1 des vorliegenden Artikels genannte Erklärung der Rechte Hinweise zu den folgenden Rechten in ihrer Ausgestaltung im innerstaatlichem Recht:

a) das Recht auf Einsicht in die Verfahrensakte;

b) das Recht auf Unterrichtung der Konsularbehörden und einer Person;

c) das Recht auf Zugang zu dringender medizinischer Versorgung und

d) wie viele Stunden oder Tage der Freiheitsentzug bei Verdächtigen oder beschuldigten Personen bis zur Vorführung vor eine Justizbehörde höchstens andauern darf.

(3) Die Erklärung der Rechte enthält auch einige grundlegende Informationen über jedwede im innerstaatlichem Recht vorgesehene Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit der Festnahme anzufechten, eine Haftprüfung zu erwirken oder einen Antrag auf vorläufige Haftentlassung zu stellen.

(4) Die Erklärung der Rechte wird in einfacher und verständlicher Sprache abgefasst. Ein Musterbeispiel einer Erklärung der Rechte ist in Anhang I enthalten.

(5) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen die schriftliche Erklärung der Rechte in einer Sprache erhalten, die sie verstehen. Ist die Erklärung der Rechte nicht in der entsprechenden Sprache verfügbar, so werden Verdächtige oder beschuldigte Personen in einer Sprache, die sie verstehen, mündlich über ihre Rechte belehrt. Ohne unnötige Verzögerung wird ihnen eine Erklärung der Rechte in einer Sprache, die sie verstehen, ausgehändigt.

6 Art. 8 („Überprüfung und Rechtsbehelfe“) der Richtlinie lautet:

„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass jegliche Belehrung oder Unterrichtung der Verdächtigen oder beschuldigten Personen, die gemäß den Artikeln 3 bis 6 erfolgt, gemäß dem Verfahren für Aufzeichnungen nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats schriftlich festgehalten wird.

(2) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen oder ihre Rechtsanwälte das Recht haben, ein etwaiges Versäumnis oder die etwaige Verweigerung einer Belehrung oder Unterrichtung gemäß dieser Richtlinie durch die zuständigen Behörden nach den Verfahren des innerstaatlichen Rechts anzufechten.“

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