Italian Republic v Council of the European Union and European Parliament.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2022:568
Date14 July 2022
Docket NumberC-106/19
Celex Number62019CJ0106
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

14. Juli 2022(*)

„Nichtigkeitsklage – Institutionelles Recht – Verordnung (EU) 2018/1718 – Festlegung des Sitzes der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) in Amsterdam (Niederlande) – Art. 263 AEUV – Zulässigkeit – Rechtsschutzinteresse – Klagebefugnis – Unmittelbare und individuelle Betroffenheit – Am Rande einer Tagung des Rates angenommener Beschluss der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten zur Festlegung des Standorts des Sitzes einer Agentur der Europäischen Union – Keine Bindungswirkung in der Unionsrechtsordnung – Befugnisse des Europäischen Parlaments“

In den verbundenen Rechtssachen C‑106/19 und C‑232/19

betreffend zwei Nichtigkeitsklagen nach Art. 263 AEUV, eingereicht am 11. Februar 2019 und am 14. März 2019,

Italienische Republik, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von C. Colelli, S. Fiorentino und G. Galluzzo, Avvocati dello Stato (C‑106/19),

Comune di Milano, Prozessbevollmächtigte: J. Alberti, M. Condinanzi, A. Neri und F. Sciaudone, Avvocati (C‑232/19),

Klägerinnen,

gegen

Rat der Europäischen Union, vertreten durch M. Bauer, J. Bauerschmidt, F. Florindo Gijón und E. Rebasti als Bevollmächtigte,

Europäisches Parlament, vertreten durch I. Anagnostopoulou, A. Tamás und L. Visaggio als Bevollmächtigte,

Beklagte,

unterstützt durch

Königreich der Niederlande, vertreten durch M. K. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte,

Europäische Kommission, vertreten durch K. Herrmann, D. Nardi und P. J. O. Van Nuffel als Bevollmächtigte,

Streithelfer,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan, S. Rodin, I. Jarukaitis, N. Jääskinen und J. Passer sowie der Richter J.‑C. Bonichot, M. Safjan, F. Biltgen, P. G. Xuereb, A. Kumin und N. Wahl (Berichterstatter),

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: R. Șereș, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. Juni 2021,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. Oktober 2021

folgendes

Urteil

1 Mit ihren Klagen beantragen die Italienische Republik (C‑106/19) und die Comune di Milano (Gemeinde Mailand, Italien) (C‑232/19) die Nichtigerklärung der Verordnung (EU) 2018/1718 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. November 2018 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 in Bezug auf den Sitz der Europäischen Arzneimittel-Agentur (ABl. 2018, L 291, S. 3, im Folgenden: angefochtene Verordnung).

Rechtlicher Rahmen

2 Am 12. Dezember 1992 erließen die Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen auf der Grundlage von Art. 216 des EWG-Vertrags, Art. 77 des EGKS-Vertrags und Art. 189 des EAG-Vertrags den Beschluss über die Festlegung der Sitze der Organe und bestimmter Einrichtungen und Dienststellen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1992, C 341, S. 1, im Folgenden: Beschluss von Edinburgh).

3 Art. 1 des Beschlusses von Edinburgh legte den Sitz des Europäischen Parlaments, des Rates der Europäischen Union, der Europäischen Kommission, des Gerichtshofs der Europäischen Union, des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses, des Europäischen Rechnungshofs und der Europäischen Investitionsbank fest.

4 Art. 2 dieses Beschlusses lautet:

„Der Sitz anderer bereits bestehender oder noch zu schaffender Einrichtungen und Dienststellen wird von den Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten auf einer der nächsten Tagungen des Europäischen Rates im gegenseitigen Einvernehmen unter Berücksichtigung der Vorteile, die obige Bestimmungen für die betreffenden Mitgliedstaaten mit sich bringen, festgelegt; Mitgliedstaaten, in denen derzeit keine Gemeinschaftsinstitution ihren Sitz hat, wird dabei angemessene Priorität eingeräumt.“

5 Art. 341 AEUV sieht vor, dass „[d]er Sitz der Organe der Union … im Einvernehmen zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten bestimmt [wird]“.

6 Im Protokoll Nr. 6 über die Festlegung der Sitze der Organe und bestimmter Einrichtungen, sonstiger Stellen und Dienststellen der Europäischen Union (im Folgenden: Protokoll Nr. 6), das dem EU‑Vertrag, dem AEU‑Vertrag und dem EAG‑Vertrag beigefügt ist, heißt es:

„Die Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten –

Gestützt auf Artikel 341 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, und Artikel 189 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft,

Eingedenk und in Bestätigung des Beschlusses vom 8. April 1965, jedoch unbeschadet der Beschlüsse über den Sitz künftiger Organe, Einrichtungen, sonstiger Stellen und Dienststellen –

sind über folgende Bestimmungen übereingekommen …

Einziger Artikel

a) Das Europäische Parlament hat seinen Sitz in Straßburg; …

b) Der Rat hat seinen Sitz in Brüssel. …

c) Die Kommission hat ihren Sitz in Brüssel. …

d) Der Gerichtshof der Europäischen Union hat seinen Sitz in Luxemburg.

e) Der Rechnungshof hat seinen Sitz in Luxemburg.

f) Der Wirtschafts- und Sozialausschuss hat seinen Sitz in Brüssel.

g) Der Ausschuss der Regionen hat seinen Sitz in Brüssel.

h) Die Europäische Investitionsbank hat ihren Sitz in Luxemburg.

i) Die Europäische Zentralbank hat ihren Sitz in Frankfurt.

j) Das Europäische Polizeiamt (Europol) hat seinen Sitz in Den Haag.“

Vorgeschichte des Rechtsstreits

7 Die Europäische Agentur für die Beurteilung von Arzneimitteln wurde durch die Verordnung (EWG) Nr. 2309/93 des Rates vom 22. Juli 1993 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Schaffung einer Europäischen Agentur für die Beurteilung von Arzneimitteln (ABl. 1993, L 214, S. 1) geschaffen. Diese Verordnung enthielt keine Bestimmung über die Festlegung des Sitzes dieser Agentur.

8 Gemäß Art. 1 Buchst. e des einvernehmlichen Beschlusses 93/C 323/01 vom 29. Oktober 1993 der auf Ebene der Staats- und Regierungschefs vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten über die Festlegung des Sitzes bestimmter Einrichtungen und Dienststellen der Europäischen Gemeinschaften sowie des Sitzes von Europol (ABl. 1993, C 323, S. 1) wurde der Sitz der genannten Agentur in London (Vereinigtes Königreich) festgelegt.

9 Die Verordnung Nr. 2309/93 wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 726/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Errichtung einer Europäischen Arzneimittel-Agentur (ABl. 2004, L 136, S. 1) aufgehoben und ersetzt. Durch diese Verordnung wurde die Europäische Agentur für die Beurteilung von Arzneimitteln in Europäische Arzneimittel-Agentur umbenannt. Die Verordnung enthielt keine Bestimmung über die Festlegung des Sitzes dieser Agentur.

10 Am 29. März 2017 teilte das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland dem Europäischen Rat gemäß Art. 50 Abs. 2 EUV seine Absicht mit, aus der Union auszutreten.

11 Am 22. Juni 2017 billigten die Staats- und Regierungschefs der 27 anderen Mitgliedstaaten am Rande einer Sitzung des Europäischen Rates betreffend das Verfahren nach Art. 50 EUV auf der Grundlage eines Vorschlags des Präsidenten des Europäischen Rates und des Präsidenten der Kommission ein Verfahren für die Annahme eines Beschlusses über die Verlegung der Sitze der EMA und der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde an andere Standorte im Zusammenhang mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union (im Folgenden: Auswahlregeln).

12 Die Auswahlregeln sahen u. a. vor, dass dieser Beschluss auf der Grundlage einer fairen und transparenten Entscheidungsfindung mit einer auf spezifische objektive Kriterien gestützten organisierten Aufforderung zur Einreichung von Angeboten gefasst werden sollte.

13 In diesem Zusammenhang wurden in Nr. 3 der Auswahlregeln sechs Kriterien genannt, nämlich i) die Gewissheit, dass die Agentur zum Zeitpunkt des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Union an dem in Betracht gezogenen Ort errichtet werden und ihren Betrieb aufnehmen kann, ii) die Erreichbarkeit des Ortes, iii) das Vorhandensein schulischer Einrichtungen für die Kinder des Personals der Agentur, iv) ein angemessener Zugang zu Arbeitsmarkt, sozialer Sicherheit und medizinischer Versorgung für Kinder und Ehegatten, v) die Aufrechterhaltung des Betriebs und vi) die geografische Verteilung.

14 Nach den Auswahlregeln wurden diese Kriterien entsprechend den Kriterien festgelegt, die in dem Gemeinsamen Konzept im Anhang der Gemeinsamen Erklärung des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission vom 19. Juli 2012 zu den dezentralen Agenturen (im Folgenden: Gemeinsame Erklärung von 2012) aufgeführt waren, wobei dem Umstand besondere Bedeutung beigemessen wurde, dass die EMA und die Europäische Bankenaufsichtsbehörde bereits errichtet worden waren und dass die Aufrechterhaltung ihres Betriebs von größter Bedeutung war.

15 In Nr. 2 der Auswahlregeln wurde ausgeführt, dass der Beschluss im Rahmen einer Abstimmung gefasst werden sollte, wobei die Mitgliedstaaten im Voraus übereinkamen, das Ergebnis zu achten. Insbesondere sollte bei Stimmengleichheit zwischen den im dritten Wahlgang verbliebenen Angeboten im Losverfahren zwischen den Angeboten mit gleicher Stimmenzahl entschieden werden.

16 Am 30. September 2017 veröffentlichte die Kommission die von den Mitgliedstaaten eingereichten 27 Angebote.

17 Am 31. Oktober 2017 veröffentlichte der Rat einen Vermerk zur Ergänzung der Auswahlregeln über praktische Aspekte der Abstimmung.

18 Am 20. November 2017 erhielten die Angebote der Italienischen Republik und des Königreichs der Niederlande im dritten Wahlgang die höchste, gleiche Stimmenzahl. Nach dem gemäß Nr. 2 der Auswahlregeln durchgeführten Losverfahren wurde das Angebot des Königreichs der Niederlande ausgewählt.

19 Infolgedessen bestimmten die Vertreter der...

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