Opinion of Advocate General Hogan delivered on 15 April 2021.

JurisdictionEuropean Union
Celex Number62019CC0650
ECLIECLI:EU:C:2021:297
Date15 April 2021
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

GERARD HOGAN

vom 15. April 2021 (1)

Rechtssache C650/19 P

Vialto Consulting Kft.

gegen

Europäische Kommission

„Rechtsmittel – Schadensersatzklage – Außervertragliche Haftung – Instrument für Heranführungshilfe – Dezentrale Mittelverwaltung – Untersuchung des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) – Kontrollen vor Ort – Verordnung (Euratom, EG) Nr. 2185/96 – Art. 7 – Zugang zu EDV-Daten – Digitalforensische Maßnahme – Vertrauensschutz – Anhörungsrecht – Immaterieller Schaden“






I. Einleitung

1. Mit ihrem Rechtsmittel beantragt die Vialto Consulting Kft. (im Folgenden: Vialto oder Rechtsmittelführerin), das Urteil des Gerichts der Europäischen Union vom 26. Juni 2019, Vialto Consulting/Kommission (T‑617/17, nicht veröffentlicht, EU:T:2019:446, im Folgenden: angefochtenes Urteil), aufzuheben. In diesem Urteil hat das Gericht ihre Klage auf Ersatz des Schadens abgewiesen, der ihr angeblich aufgrund des rechtswidrigen Verhaltens der Europäischen Kommission und des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) im Zusammenhang mit ihrem Ausschluss von dem Dienstleistungsvertrag mit dem Az. TR2010/0311.01-02/001 entstanden ist.

2. Dieses Rechtsmittel wirft eine wichtige Frage dazu, wie das OLAF seine externen Untersuchungen durchführt, und insbesondere zu den Grenzen digitalforensischer Maßnahmen (im Folgenden auch: IT-forensische Maßnahmen) auf. Es bietet auch die Gelegenheit, im Hinblick auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes und die Tragweite des Anhörungsrechts in Verfahren, an denen mehrere Behörden wie das OLAF, die Kommission und eine nationale Behörde beteiligt sind, zu klären, welche Auswirkungen Zusicherungen haben, die das OLAF zu Beginn einer Kontrolle vor Ort gemacht hat.

3. Für die künftige Verwaltungspraxis des OLAF bei externen Untersuchungen wird das Urteil des Gerichtshofs im vorliegenden Rechtsmittelverfahren daher von nicht zu unterschätzender Bedeutung sein. Bevor ich mich der Prüfung der mit diesem Rechtsmittel aufgeworfenen Rechtsfragen zuwende, sollte jedoch zunächst der einschlägige rechtliche Rahmen dargelegt werden.

II. Rechtlicher Rahmen

A. Verordnung (Euratom, EG) Nr. 2185/96

4. Art. 4 der Verordnung (Euratom, EG) Nr. 2185/96 des Rates vom 11. November 1996 betreffend die Kontrollen und Überprüfungen vor Ort durch die Kommission zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften vor Betrug und anderen Unregelmäßigkeiten(2) bestimmt:

„Die Kontrollen und Überprüfungen vor Ort werden von der Kommission vorbereitet und durchgeführt; dies erfolgt in enger Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats, die rechtzeitig über Gegenstand, Ziel und Rechtsgrundlage der Kontrollen und Überprüfungen unterrichtet werden, damit sie die erforderliche Unterstützung gewähren können. Zu diesem Zweck können die Beauftragten des betreffenden Mitgliedstaats an den Kontrollen und Überprüfungen vor Ort teilnehmen.

Darüber hinaus werden die Kontrollen und Überprüfungen vor Ort auf Wunsch des betreffenden Mitgliedstaats gemeinsam von der Kommission und dessen zuständigen Behörden durchgeführt.“

5. In Art. 7 der Verordnung Nr. 2185/96 sind die Befugnisse der Kontrolleure der Kommission bei der Durchführung ihrer Kontrollen und Überprüfungen vor Ort geregelt. Diese Bestimmung lautet:

„(1) Die Kontrolleure der Kommission haben unter denselben Bedingungen wie die Kontrolleure der einzelstaatlichen Verwaltungen und unter Einhaltung der einzelstaatlichen Vorschriften Zugang zu allen Informationen und Unterlagen über die betreffenden Vorgänge, die sich für die ordnungsgemäße Durchführung der Kontrollen und Überprüfungen vor Ort als erforderlich erweisen. Sie können dieselben materiellen Kontrollmittel benutzen wie die Kontrolleure der einzelstaatlichen Verwaltungen und insbesondere zweckdienliche Unterlagen kopieren.

Die Kontrollen und Überprüfungen vor Ort können sich insbesondere erstrecken auf

– Bücher und Belege wie Rechnungen, Lastenverzeichnisse, Lohnzettel, Begleitzettel, Bankkontoauszüge der Wirtschaftsteilnehmer,

– EDV-Daten,

– Systeme und Methoden für Produktion, Verpackung und Versand,

– die physische Kontrolle der Art und des Umfangs der Waren bzw. der Leistungen,

– die Entnahme und Untersuchung von Stichproben,

– den Stand der finanzierten Arbeiten und Investitionen, die Nutzung und den Einsatz der abgeschlossenen Investitionen,

– Haushalts- und Buchungsbelege,

– die finanzielle und technische Durchführung subventionierter Vorhaben.

(2) Erforderlichenfalls obliegt es den Mitgliedstaaten, auf Ersuchen der Kommission die im einzelstaatlichen Recht vorgesehenen Sicherungsmaßnahmen zu ergreifen, um insbesondere Beweisstücke zu sichern.“

B. Verordnung (EG) Nr. 718/2007

6. Art. 10 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 718/2007 der Kommission vom 12. Juni 2007 zur Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 1085/2006 des Rates zur Schaffung eines Instruments für Heranführungshilfe (IPA)(3) sieht vor:

„Sofern in den Absätzen 2, 3 und 4 nichts anderes bestimmt ist, gilt für die Durchführung der Hilfe nach der IPA-Verordnung die dezentrale Mittelverwaltung, bei der die Kommission die Verwaltung bestimmter Maßnahmen dem begünstigten Land überträgt, jedoch die oberste Gesamtverantwortung für die Ausführung des Gesamthaushaltsplans nach Artikel 53c der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 1605/2002 [des Rates vom 25. Juni 2002 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 2002, L 248, S. 1)] und den einschlägigen Bestimmungen der Verträge behält.“

7. In Art. 21 Abs. 1 dieser Verordnung heißt es:

„Das begünstigte Land benennt die folgenden Stellen und Behörden:

f) eine operative Struktur für jede IPA-Komponente oder jedes Programm;

…“

8. Art. 28 („Aufgaben und Zuständigkeiten der operativen Struktur“) Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 718/2007 lautet:

(1) Für jede IPA-Komponente oder jedes Programm wird eine operative Struktur für die Verwaltung und die Durchführung der Hilfe nach der IPA-Verordnung eingerichtet.

Die operative Struktur muss eine Stelle oder eine Gesamtheit von Stellen innerhalb der Verwaltung des begünstigten Landes sein.

(2) Die operative Struktur ist für die Verwaltung und Durchführung des betreffenden Programms bzw. der betreffenden Programme nach dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung zuständig. …“

C. Verordnung (EU, Euratom) Nr. 883/2013

9. Art. 3 der Verordnung (EU, Euratom) Nr. 883/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. September 2013 über die Untersuchungen des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1073/1999 des Europäischen Parlaments und des Rates und der Verordnung (Euratom) Nr. 1074/1999 des Rates(4) betrifft vom OLAF durchgeführte externe Untersuchungen. Darin heißt es:

„(1) Das [OLAF] übt die der Kommission durch die Verordnung … Nr. 2185/96 übertragenen Befugnisse zur Durchführung von Kontrollen und Überprüfungen vor Ort in den Mitgliedstaaten und – gemäß den geltenden Vereinbarungen über Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung und sonstigen geltenden Rechtsinstrumenten – in Drittstaaten und in den Räumlichkeiten internationaler Organisationen aus.

(2) Zur Feststellung des Vorliegens von Betrug oder Korruption oder jedweder sonstigen rechtswidrigen Handlung zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union, der bzw. die im Zusammenhang mit einer Finanzhilfevereinbarung, einem Finanzhilfebeschluss oder einem Vertrag über eine Finanzhilfe der Union verübt wurde, kann [das OLAF] gemäß den in der Verordnung … Nr. 2185/96 festgelegten Bestimmungen und Verfahren bei Wirtschaftsteilnehmern vor Ort Kontrollen und Überprüfungen durchführen.

(3) Während der Kontrollen und Überprüfungen vor Ort handeln die Bediensteten des Amtes – vorbehaltlich des anwendbaren Unionsrechts – im Einklang mit den Vorschriften und Gepflogenheiten des betroffenen Mitgliedstaats und den in dieser Verordnung niedergelegten Verfahrensgarantien.

Auf Antrag [des OLAF] leistet die zuständige Behörde des betroffenen Mitgliedstaats den Bediensteten [des OLAF] die notwendige Unterstützung, um ihnen die wirksame Durchführung ihrer Aufgaben entsprechend der schriftlichen Ermächtigung nach Artikel 7 Absatz 2 zu ermöglichen. Erfordert diese Unterstützung gemäß den nationalen Bestimmungen die Genehmigung einer Justizbehörde, so ist diese Genehmigung zu beantragen.

Der betroffene Mitgliedstaat stellt im Einklang mit der Verordnung … Nr. 2185/96 sicher, dass die Bediensteten [des OLAF] unter den gleichen Bedingungen wie seine zuständigen Behörden und unter Achtung seiner nationalen Rechtsvorschriften Zugang zu sämtlichen mit dem untersuchten Sachverhalt zusammenhängenden Informationen und Schriftstücken haben, die für eine wirksame und effiziente Durchführung der Kontrollen und Überprüfungen vor Ort erforderlich sind.

…“

D. OLAFinterne Leitlinien für ITforensische Verfahren

10. Bei den OLAF‑internen Leitlinien zu digitalforensischen Arbeitsverfahren für die Bediensteten des OLAF (im Folgenden: Leitlinien für IT‑forensische Verfahren) handelt es sich um Bestimmungen, die das OLAF für den Dienstgebrauch erlassen hat und die von den OLAF‑Bediensteten bei der Identifizierung, Aufnahme, Abbildung, Erhebung, Analyse und Sicherung digitaler Beweismittel zu beachten sind. Sie dienen u. a. der Umsetzung von Art. 7 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2185/96 und sind über die OLAF‑Website zugänglich.

11. Art. 4 („Durchführung einer digitalforensischen Maßnahme – grundsätzliche Verfahrensweise“) der Leitlinien für IT‑forensische Verfahren sieht vor:

„…

4.3. Zu Beginn der digitalforensischen Maßnahme werden vom SDB [Spezialist für digitale Beweismittel] 1) sämtliche digitalen Speichermedien, die Gegenstand der forensischen Maßnahme sind, sowie deren physische Umgebung und ihre Anordnung dokumentiert und fotografiert und [wird] 2) eine Bestandsliste der digitalen Speichermedien erstellt. Die...

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