UAB „ARVI“ ir ko v Valstybinė mokesčių inspekcija prie Lietuvos Respublikos finansų ministerijos.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2022:509
Docket NumberC-56/21
Date30 June 2022
Celex Number62021CJ0056
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

30. Juni 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 137 – Regelung der optionalen Besteuerung – Voraussetzungen – Nationale Regelung, die das Recht eines Steuerpflichtigen, sich für die Mehrwertsteuerpflicht des Verkaufs einer Immobilie zu entscheiden, davon abhängig macht, dass diese Immobilie an einen bereits registrierten Mehrwertsteuerpflichtigen übertragen wird – Pflicht zur Berichtigung der Vorsteuerabzüge bei Nichterfüllung dieser Voraussetzung – Grundsätze der steuerlichen Neutralität, der Effektivität und der Verhältnismäßigkeit“

In der Rechtssache C‑56/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Mokestinių ginčų komisija prie Lietuvos Respublikos vyriausybės (Kommission für Steuerstreitigkeiten bei der Regierung der Republik Litauen) mit Entscheidung vom 16. Oktober 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Januar 2021, in dem Verfahren

UAB „ARVI“ ir ko

gegen

Valstybinė mokesčių inspekcija prie Lietuvos Respublikos finansų ministerijos

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richter J. Passer, F. Biltgen (Berichterstatter) und N. Wahl sowie der Richterin M. L. Arastey Sahún,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der UAB „ARVI“ ir ko, vertreten durch L. Augustinavičienė und A. Paulauskas, Advokatai,

– der litauischen Regierung, vertreten durch K. Dieninis und V. Kazlauskaitė-Švenčionienė als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Jokubauskaitė und L. Lozano Palacios als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 24. März 2022

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 135 und 137 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) sowie der Grundsätze der steuerlichen Neutralität, der Effektivität und der Verhältnismäßigkeit.

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der UAB „ARVI“ ir ko (im Folgenden: Arvi) und der Valstybinė mokesčių inspekcija prie Lietuvos Respublikos finansų ministerijos (Staatliche Steuerinspektion beim Finanzministerium der Republik Litauen; im Folgenden: staatliche Steuerinspektion) über die Ausübung des Rechts, sich für die Besteuerung des Verkaufs einer Immobilie an einen zum Zeitpunkt des Verkaufs nicht zur Mehrwertsteuer registrierten Steuerpflichtigen zu entscheiden sowie über die Einzelheiten der Ausübung des Vorsteuerabzugsrechts.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3 Art. 135 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:

j) Lieferung von anderen Gebäuden oder Gebäudeteilen und dem dazugehörigen Grund und Boden als [vor dem Erstbezug erfolgte];

…“

4 Art. 137 dieser Richtlinie bestimmt:

„(1) Die Mitgliedstaaten können ihren Steuerpflichtigen das Recht einräumen, sich bei folgenden Umsätzen für eine Besteuerung zu entscheiden:

b) Lieferung von anderen Gebäuden oder Gebäudeteilen und dem dazugehörigen Grund und Boden als [vor dem Erstbezug erfolgte];

(2) Die Mitgliedstaaten legen die Einzelheiten für die Inanspruchnahme des Wahlrechts nach Absatz 1 fest.

Die Mitgliedstaaten können den Umfang dieses Wahlrechts einschränken.“

5 In Art. 168 dieser Richtlinie heißt es:

„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:

a) die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;

…“

6 Art. 213 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:

„Jeder Steuerpflichtige hat die Aufnahme, den Wechsel und die Beendigung seiner Tätigkeit als Steuerpflichtiger anzuzeigen.“

7 Art. 214 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit folgende Personen jeweils eine individuelle Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer erhalten:

a) jeder Steuerpflichtige, der in ihrem jeweiligen Gebiet Lieferungen von Gegenständen bewirkt oder Dienstleistungen erbringt, für die ein Recht auf Vorsteuerabzug besteht und bei denen es sich nicht um Lieferungen von Gegenständen oder um Dienstleistungen handelt, für die die Mehrwertsteuer gemäß den Artikeln 194 bis 197 sowie 199 ausschließlich vom Dienstleistungsempfänger beziehungsweise der Person, für die die Gegenstände oder Dienstleistungen bestimmt sind, geschuldet wird; hiervon ausgenommen sind die in Artikel 9 Absatz 2 genannten Steuerpflichtigen;

…“

Litauisches Recht

8 Art. 32 Abs. 3 des Lietuvos Respublikos pridėtinės vertės mokesčio įstatymas Nr. IX-751 (Gesetz Nr. IX-751 der Republik Litauen über die Mehrwertsteuer) vom 5. März 2002 (Žin., 2002, Nr. 35-1271) in der für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgeblichen Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) sieht vor:

„Ein Steuerpflichtiger kann entscheiden, für Immobilien, die gemäß Abs. 1 oder 2 dieses Artikels von der Mehrwertsteuer befreit sind, Mehrwertsteuer nach diesem Gesetz zu berechnen, wenn die Immobilie an einen Steuerpflichtigen verkauft oder anderweitig übertragen wird, der registrierter Mehrwertsteuerpflichtiger ist …; diese Wahl gilt für mindestens 24 Monate ab dem Tag, an dem sie ausgeübt wird, für alle relevanten Umsätze, die von diesem Steuerpflichtigen durchgeführt werden. Der Steuerpflichtige hat seine Wahl in der von der zentralen Steuerbehörde festgelegten Weise zu treffen. …“

9 Art. 58 Abs. 1 dieses Gesetzes bestimmt:

„Ein Mehrwertsteuerpflichtiger ist zum Abzug der Vorsteuer und/oder Einfuhrumsatzsteuer für erworbene und/oder eingeführte Gegenstände und/oder Dienstleistungen berechtigt, wenn diese Gegenstände und/oder Dienstleistungen zur Verwendung für folgende Tätigkeiten des Mehrwertsteuerpflichtigen bestimmt sind:

1. Lieferungen von Gegenständen und/oder Dienstleistungen, auf die Mehrwertsteuer erhoben wird;

…“

10 In Art. 67 Abs. 2 dieses Gesetzes heißt es:

„Vorsteuerabzüge sind auf die in diesem Artikel festgelegte Weise zu berichtigen: hinsichtlich Immobilien für 10 Jahre, …, ab dem Besteuerungszeitraum, in dem die Vorsteuer und/oder Einfuhrumsatzsteuer für die Immobilie vollständig oder teilweise abgezogen wurden (bei Renovierungsarbeiten an Gebäuden/Bauwerken wird der Vorsteuerabzug für die dadurch entstehenden Investitionsgüter über 10 Jahre ab dem Besteuerungszeitraum berichtigt, in dem die Arbeiten fertiggestellt wurden). …“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

11 Im Anschluss an eine Überprüfung der richtigen Berechnung, Erklärung und Entrichtung der Mehrwertsteuer durch Arvi verfasste die Kauno apskrities valstybinė mokesčių inspekcija (Staatliche Steuerinspektion des Bezirks Kaunas, Litauen; im Folgenden: regionale Steuerinspektion) am 15. April 2020 einen Steuerprüfungsbericht, in dem sie darlegte, dass diese Gesellschaft für den Verkauf einer Immobilie an die UAB „Investicijų ir inovacijų fondas“ (im Folgenden: Fondas) am 8. Mai 2015 zu Unrecht die Mehrwertsteuer berechnet habe. Die regionale Steuerinspektion ging in diesem Bericht nämlich davon aus, dass...

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