Unilever Italia Mkt. Operations Srl v Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2023:33
Date19 January 2023
Docket NumberC-680/20
Celex Number62020CJ0680
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

19. Januar 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Wettbewerb – Art. 102 AEUV – Beherrschende Stellung – Zurechnung des Verhaltens von Vertriebshändlern an den Hersteller – Bestehen vertraglicher Beziehungen zwischen dem Hersteller und den Vertriebshändlern – Begriff ,wirtschaftliche Einheit‘ – Geltungsbereich – Missbräuchliche Nutzung – Ausschließlichkeitsklausel – Notwendigkeit des Nachweises der Auswirkungen auf den Markt“

In der Rechtssache C‑680/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) mit Entscheidung vom 7. Dezember 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Dezember 2020, in dem Verfahren

Unilever Italia Mkt. Operations Srl

gegen

Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato,

Beteiligte:

La Bomba Snc,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan (Berichterstatter) sowie der Richter D. Gratsias, M. Ilešič, I. Jarukaitis und Z. Csehi,

Generalanwalt: A. Rantos,

Kanzler: C. Di Bella, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. März 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der Unilever Italia Mkt. Operations Srl, vertreten durch G. Bitonto, S. Borocci, S. Lembo, L. Perfetti, C. Tesauro und C. Thomas, Avvocati,

– der Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato, vertreten durch F. Sclafani, Avvocato dello Stato,

– der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Gentili, Avvocato dello Stato,

– der griechischen Regierung, vertreten durch K. Boskovits als Bevollmächtigten,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Conte, N. Khan und C. Sjödin als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Juli 2022

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 101 und 102 AEUV.

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Unilever Italia Mkt. Operations Srl (im Folgenden: Unilever) und der Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato (Wettbewerbs- und Marktaufsichtsbehörde, Italien) (im Folgenden: AGCM) wegen einer Sanktion, die diese Behörde gegen Unilever wegen Missbrauchs einer beherrschenden Stellung auf dem italienischen Markt für den Vertrieb von Speiseeis in Einzelpackungen an bestimmte Verkaufsstellen, wie Badeanstalten und Bars, verhängt hat.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

3 Unilever ist in der Herstellung und im Vertrieb von Massenkonsumgütern tätig, darunter abgepacktes Speiseeis, das unter den Marken Algida und Carte d’Or vermarktet wird. In Italien vertreibt Unilever Eis in Einzelpackungen, die für den Konsum „Außer-Haus“ bestimmt sind, d. h. nicht im Haushalt des Verbrauchers konsumiert werden, sondern in Bars, Cafés, Sportstätten, Schwimmbädern oder anderen Freizeiteinrichtungen (im Folgenden: Verkaufsstellen), mit Hilfe eines Netzes von 150 Vertriebshändlern.

4 Am 3. April 2013 legte ein konkurrierendes Unternehmen bei der AGCM Beschwerde wegen Missbrauchs einer beherrschenden Stellung durch Unilever auf dem Markt für Speiseeis in Einzelpackungen ein. Die AGCM leitete eine Untersuchung ein.

5 Im Laufe ihrer Untersuchung war die AGCM der Ansicht, dass sie nicht verpflichtet sei, die wirtschaftlichen Analysen zu prüfen, die Unilever vorgelegt hatte, um nachzuweisen, dass die untersuchten Praktiken nicht die Verdrängung mindestens ebenso leistungsfähiger Wettbewerber vom Markt bewirkten, da diese Analysen bei Ausschließlichkeitsklauseln völlig irrelevant seien und die Verwendung solcher Klauseln durch ein Unternehmen in beherrschender Stellung ausreiche, um einen Missbrauch dieser Stellung festzustellen.

6 Mit Entscheidung vom 31. Oktober 2017 stellte die AGCM fest, dass Unilever ihre beherrschende Stellung auf dem Markt für den Vertrieb von für den Konsum „Außer-Haus“ bestimmtem Speiseeis in Einzelpackungen unter Verstoß gegen Art. 102 AEUV missbraucht habe.

7 Aus dieser Entscheidung geht hervor, dass Unilever auf dem relevanten Markt eine Verdrängungsstrategie verfolgt habe, die geeignet gewesen sei, das Wachstum ihrer Wettbewerber auf diesem Markt zu behindern. Diese Strategie habe hauptsächlich darauf beruht, dass den Betreibern der Verkaufsstellen durch die Vertriebshändler von Unilever Ausschließlichkeitsklauseln auferlegt worden seien, die sie dazu verpflichtet hätten, ihren gesamten Bedarf an abgepacktem Speiseeis ausschließlich von Unilever zu beziehen. Als Gegenleistung habe für diese Betreiber ein breites Spektrum von Rabatten und Provisionen gegolten, deren Gewährung an Umsatzbedingungen oder den Vertrieb einer bestimmten Produktpalette von Unilever geknüpft gewesen sei. Diese Rabatte und Provisionen, die in unterschiedlichen Kombinationen und auf unterschiedliche Weise fast allen Kunden von Unilever gewährt worden seien, hätten diese dazu bewegen sollen, ihre Ware weiterhin ausschließlich von diesem Unternehmen zu beziehen, indem sie sie davon abhielten, ihren Vertrag zu kündigen, um bei Wettbewerbern von Unilever zu kaufen.

8 Zwei Aspekte der Entscheidung der AGCM vom 31. Oktober 2017 sind für das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen von besonderer Bedeutung.

9 Zum einen war die AGCM, obwohl das missbräuchliche Verhalten tatsächlich nicht von Unilever, sondern von ihren Vertriebshändlern begangen wurde, der Ansicht, dass dieses Verhalten allein Unilever zuzurechnen sei, weil Unilever und ihre Vertriebshändler eine wirtschaftliche Einheit bildeten. Unilever habe nämlich zu einem gewissen Grad in die Geschäftspolitik der Vertriebshändler eingegriffen, so dass diese nicht eigenständig gehandelt hätten, als sie den Betreibern der Verkaufsstellen Ausschließlichkeitsklauseln auferlegt hätten.

10 Zum anderen vertrat die AGCM die Auffassung, dass in Anbetracht der Besonderheiten des relevanten Marktes und insbesondere des geringen Platzangebots in den Verkaufsstellen sowie der entscheidenden Rolle, die der Umfang des Angebots für die Wahl der Verbraucher spiele, das Verhalten von Unilever die Möglichkeit der konkurrierenden Wirtschaftsteilnehmer, in einen auf den Vorzügen ihrer Produkte beruhenden Wettbewerb zu treten, ausgeschlossen oder zumindest erschwert habe.

11 Daher verhängte die AGCM mit Entscheidung vom 31. Oktober 2017 gegen Unilever eine Geldbuße in Höhe von 60 668 580 Euro wegen Missbrauchs ihrer beherrschenden Stellung unter Verstoß gegen Art. 102 AEUV.

12 Unilever erhob gegen diese Entscheidung Klage beim Tribunale Amministrativo Regionale per il Lazio (Verwaltungsgericht für die Region Latium, Italien), das die Klage in vollem Umfang abwies.

13 Unilever legte gegen dieses Urteil beim Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) ein Rechtsmittel ein.

14 Unilever stützt dieses Rechtsmittel darauf, dass das Tribunale Amministrativo Regionale per il Lazio (Verwaltungsgericht für die Region Latium) hätte feststellen müssen, dass die Entscheidung der AGCM vom 31. Oktober 2017 fehlerhaft gewesen sei, was zum einen die Zurechenbarkeit des Verhaltens ihrer Vertriebshändler an sie und zum anderen die Auswirkungen des fraglichen Verhaltens betreffe, das nicht geeignet gewesen sei, den Wettbewerb zu verfälschen.

15 In diesem Zusammenhang hat das vorlegende Gericht im Hinblick auf die Behandlung der beiden genannten Rechtsmittelgründe Zweifel hinsichtlich der Auslegung des Unionsrechts. Insbesondere weist es in Bezug auf die erste Rüge darauf hin, dass es wissen müsse, ob und unter welchen Bedingungen eine Koordinierung zwischen formal autonomen und unabhängigen Wirtschaftsteilnehmern so gestaltet sei, dass sie dem Bestehen eines einzigen Entscheidungszentrums gleichkomme, mit der Folge, dass das Verhalten des einen ebenfalls dem anderen zugerechnet werden könne.

16 Unter diesen Umständen hat der Consiglio di Stato (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Welche Kriterien sind abgesehen von Fällen der Unternehmenskontrolle für die Feststellung maßgeblich, ob die vertragliche Koordinierung zwischen formal autonomen und unabhängigen Wirtschaftsteilnehmern zu einer einzigen wirtschaftlichen Einheit im Sinne der Art. 101 und 102 AEUV führt? Kann insbesondere das Vorhandensein eines gewissen Grades von Eingriffen in die geschäftlichen Entscheidungen eines anderen Unternehmens, das für Beziehungen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Herstellern und Abnehmern typisch ist, als ausreichend angesehen werden, um diese Unternehmen als Teil derselben wirtschaftlichen Einheit einzustufen? Oder muss zwischen den beiden Unternehmen eine „hierarchische“ Verbindung bestehen, die durch das Vorliegen eines Vertrags erkennbar wird, wonach sich mehrere autonome Unternehmen der Leitungs- und Koordinierungstätigkeit eines von ihnen „unterwerfen“, so dass die Behörde den Nachweis für eine systematische und kontinuierliche Reihe von Anleitungsmaßnahmen erbringen muss, die geeignet sind, die betrieblichen Entscheidungen des Unternehmens zu beeinflussen, d. h. die strategischen und operativen Entscheidungen in finanzieller und gewerblicher Hinsicht?

2. Ist Art. 102 AEUV für die Beurteilung, ob ein Missbrauch einer beherrschenden Stellung durch die Verwendung von Ausschließlichkeitsklauseln vorliegt, dahin auszulegen, dass die...

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