EZ v Bundesrepublik Deutschland.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2020:945
Docket NumberC-238/19
Date19 November 2020
Celex Number62019CJ0238
CourtCourt of Justice (European Union)

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

19. November 2020(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Asylpolitik – Richtlinie 2011/95/EU – Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft – Verweigerung des Militärdienstes – Art. 9 Abs. 2 Buchst. e – Recht des Herkunftslandes, das das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen nicht vorsieht – Schutz der Personen, die nach dem Ablauf einer Frist zur Aussetzung des Militärdienstes aus ihrem Herkunftsland geflohen sind – Art. 9 Abs. 3 – Verknüpfung zwischen den in Art. 10 dieser Richtlinie genannten Gründen und der Strafverfolgung und Bestrafung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e dieser Richtlinie – Beweis“

In der Rechtssache C‑238/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgericht Hannover (Deutschland) mit Entscheidung vom 7. März 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 20. März 2019, in dem Verfahren

EZ

gegen

Bundesrepublik Deutschland

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten der Ersten Kammer J.‑C. Bonichot (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Kammerpräsidenten, der Richterin C. Toader und des Richters M. Safjan,

Generalanwältin: E. Sharpston,

Kanzler: R. Schiano, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. März 2020,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– von EZ, vertreten durch Rechtsanwältin S. Schröder,

– der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch A. Horlamus als Bevollmächtigten,

– der deutschen Regierung, vertreten durch R. Kanitz als Bevollmächtigten,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und M. Condou-Durande als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 28. Mai 2020

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e und Abs. 3 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen EZ, einem syrischen Staatsangehörigen, und der Bundesrepublik Deutschland über die Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Deutschland), ihm den Flüchtlingsstatus zu verweigern.

Rechtlicher Rahmen

Genfer Flüchtlingskonvention

3 In Art. 1 Abschnitt A des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]), das am 22. April 1954 in Kraft trat und durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, das seinerseits am 4. Oktober 1967 in Kraft trat, ergänzt wurde (im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention), heißt es:

„Im Sinne dieses Abkommens findet der Ausdruck ‚Flüchtling‘ auf jede Person Anwendung:

(2) die aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als staatenlose außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.

…“

Richtlinie 2011/95

4 In den Erwägungsgründen 2, 4, 12, 24 und 29 der Richtlinie 2011/95 heißt es:

„(2) Eine gemeinsame Asylpolitik einschließlich eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist wesentlicher Bestandteil des Ziels der Europäischen Union, schrittweise einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts aufzubauen, der allen offen steht, die wegen besonderer Umstände rechtmäßig in der Union um Schutz ersuchen.

(4) Die Genfer Flüchtlingskonvention [stellt] einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen dar.

(12) Das wesentliche Ziel dieser Richtlinie besteht darin, einerseits zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich Schutz benötigen, und andererseits sicherzustellen, dass diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird.

(24) Es müssen gemeinsame Kriterien für die Anerkennung von Asylbewerbern als Flüchtlinge im Sinne von Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention eingeführt werden.

(29) Eine der Voraussetzungen für die Flüchtlingseigenschaft im Sinne von Artikel 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention ist das Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen den Gründen der Verfolgung, nämlich Rasse, Religion, Nationalität, politische Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, und den Verfolgungshandlungen oder dem fehlenden Schutz vor solchen Handlungen.“

5 Im Sinne der Richtlinie bezeichnet nach ihrem Art. 2 Buchst. d der Ausdruck „Flüchtling“ „einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will …“.

6 Art. 4 dieser Richtlinie in deren Kapitel II („Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz“) bestimmt:

„(1) Die Mitgliedstaaten können es als Pflicht des Antragstellers betrachten, so schnell wie möglich alle zur Begründung des Antrags auf internationalen Schutz erforderlichen Anhaltspunkte darzulegen. Es ist Pflicht des Mitgliedstaats, unter Mitwirkung des Antragstellers die für den Antrag maßgeblichen Anhaltspunkte zu prüfen.

(2) Zu den in Absatz 1 genannten Anhaltspunkten gehören Angaben des Antragstellers zu Alter und familiären und sozialen Verhältnissen – auch der betroffenen Verwandten –, Identität, Staatsangehörigkeit(en), Land/Ländern und Ort(en) des früheren Aufenthalts, früheren Asylanträgen, Reisewegen und Reisedokumenten sowie zu den Gründen für seinen Antrag auf internationalen Schutz und sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen zu diesen Angaben.

(3) Die Anträge auf internationalen Schutz sind individuell zu prüfen, wobei Folgendes zu berücksichtigen ist:

a) alle mit dem Herkunftsland verbundenen Tatsachen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag relevant sind, einschließlich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Herkunftslandes und der Weise, in der sie angewandt werden;

b) die maßgeblichen Angaben des Antragstellers und die von ihm vorgelegten Unterlagen, einschließlich Informationen zu der Frage, ob er verfolgt worden ist bzw. verfolgt werden könnte oder einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. erleiden könnte;

c) die individuelle Lage und die persönlichen Umstände des Antragstellers, einschließlich solcher Faktoren wie familiärer und sozialer Hintergrund, Geschlecht und Alter, um bewerten zu können, ob in Anbetracht seiner persönlichen Umstände die Handlungen, denen er ausgesetzt war oder ausgesetzt sein könnte, einer Verfolgung oder einem sonstigen ernsthaften Schaden gleichzusetzen sind;

d) die Frage, ob die Aktivitäten des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes ausschließlich oder hauptsächlich aufgenommen wurden, um die für die Beantragung von internationalem Schutz erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen, damit bewertet werden kann, ob der Antragsteller im Fall einer Rückkehr in dieses Land aufgrund dieser Aktivitäten verfolgt oder ernsthaften Schaden erleiden würde;

e) die Frage, ob vom Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er den Schutz eines anderen Staates in Anspruch nimmt, dessen Staatsangehörigkeit er für sich geltend machen könnte.

(4) Die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.

(5) Wenden die Mitgliedstaaten den Grundsatz an, wonach der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz begründen muss, und fehlen für Aussagen des Antragstellers Unterlagen oder sonstige Beweise, so bedürfen diese Aussagen keines Nachweises, wenn

a) der Antragsteller sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen;

b) alle dem Antragsteller verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen und eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben wurde;

c) festgestellt wurde, dass die Aussagen des Antragstellers kohärent und plausibel sind und zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen;

d) der Antragsteller internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat, es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war; und

e) die generelle Glaubwürdigkeit des Antragstellers festgestellt worden ist.“

7 Art. 9 („Verfolgungshandlungen“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1) Um als Verfolgung im Sinne des Artikels 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention zu gelten, muss eine Handlung

a) aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sein, dass sie eine...

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