XXX v Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2023:542
Date06 July 2023
Docket NumberC-8/22
Celex Number62022CJ0008
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

6. Juli 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2011/95/EU – Normen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus – Art. 14 Abs. 4 Buchst. b – Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft – Drittstaatsangehöriger, der wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde – Gefahr für die Allgemeinheit – Verhältnismäßigkeitsprüfung“

In der Rechtssache C‑8/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) mit Entscheidung vom 2. Dezember 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Januar 2022, in dem Verfahren

XXX

gegen

Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter) sowie der Richter P. G. Xuereb, T. von Danwitz und A. Kumin,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: M. Krausenböck, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. November 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– von XXX, vertreten durch J. Hardy, Avocat,

– der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs, C. Pochet, A. Van Baelen und M. Van Regemorter als Bevollmächtigte,

– der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azema und L. Grønfeldt als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Februar 2023

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen XXX, einem Drittstaatsangehörigen, und dem Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides (Generalkommissar für Flüchtlinge und Staatenlose, Belgien, im Folgenden: Generalkommissar) wegen der Entscheidung des Generalkommissars, ihm die Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen.

Rechtlicher Rahmen

Völkerrecht

3 Das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnete Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) trat am 22. April 1954 in Kraft. Es wurde durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ergänzt und geändert (im Folgenden: Genfer Konvention).


4 Art. 1 Abschnitt F der Genfer Konvention bestimmt:

„Die Bestimmungen dieses Abkommens finden keine Anwendung auf Personen, in Bezug auf die aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist,

b) dass sie ein schweres nichtpolitisches Verbrechen außerhalb des Aufnahmelandes begangen haben, bevor sie dort als Flüchtling aufgenommen wurden;

…“

5 Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention lautet:

„Auf die Vergünstigung dieser Vorschrift kann sich jedoch ein Flüchtling nicht berufen, der aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit des Landes anzusehen ist, in dem er sich befindet, oder der eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Staates bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens rechtskräftig verurteilt wurde.“

Unionsrecht

Richtlinie 2004/38/EG

6 Art. 27 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt in ABl. 2004, L 229, S. 35) lautet:

„Bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein. Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen.

Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.“


Richtlinie 2011/95

7 Der zwölfte Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 lautet:

„Das wesentliche Ziel dieser Richtlinie besteht darin, einerseits zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich Schutz benötigen, und andererseits sicherzustellen, dass diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird.“

8 Art. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Zweck dieser Richtlinie ist es, Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen, die Anspruch auf subsidiären Schutz haben, sowie für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes festzulegen.“

9 Art. 2 Buchst. d der Richtlinie stellt klar:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

d) ‚Flüchtling‘ einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder einen Staatenlosen, der sich aus denselben vorgenannten Gründen außerhalb des Landes seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts befindet und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht dorthin zurückkehren will und auf den Artikel 12 keine Anwendung findet“.

10 In Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie heißt es:

„Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser ist von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass er

b) eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Aufnahmelandes begangen hat, bevor er als Flüchtling aufgenommen wurde, das heißt vor dem Zeitpunkt der Ausstellung eines Aufenthaltstitels aufgrund der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft …“


11 Art. 13 der Richtlinie 2011/95 sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten erkennen einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen, der die Voraussetzungen der Kapitel II und III erfüllt, die Flüchtlingseigenschaft zu.“

12 Art. 14 Abs. 4 und 6 dieser Richtlinie bestimmt:

„(4) Die Mitgliedstaaten können einem Flüchtling die ihm von einer Regierungs- oder Verwaltungsbehörde, einem Gericht oder einer gerichtsähnlichen Behörde zuerkannte Rechtsstellung aberkennen, diese beenden oder ihre Verlängerung ablehnen, wenn

a) es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass er eine Gefahr für die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält;

b) er eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.

(6) Personen, auf die die Absätze 4 oder 5 Anwendung finden, können die in den Artikeln 3, 4, 16, 22, 31, 32 und 33 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Rechte oder vergleichbare Rechte geltend machen, sofern sie sich in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhalten.“

13 Art. 17 Abs. 1 Buchst. b und d der Richtlinie führt aus:

„Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser ist von der Gewährung subsidiären Schutzes ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er

b) eine schwere Straftat begangen hat;

d) eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält.“

14 Art. 21 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie bestimmt:

„Ein Mitgliedstaat kann, sofern dies nicht aufgrund der in Absatz 1 genannten völkerrechtlichen Verpflichtungen untersagt ist, einen Flüchtling unabhängig davon, ob er als solcher förmlich anerkannt ist oder nicht, zurückweisen, wenn

b) er eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.“

15 Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95 lautet:

„Unbeschadet der Absätze 1 und 2 können die Mitgliedstaaten aus Gründen der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung die dort aufgeführten Leistungen verweigern, einschränken oder entziehen.“

16 Art. 24 dieser Richtlinie sieht vor:

„(1) So bald wie möglich nach Zuerkennung des internationalen Schutzes und unbeschadet des Artikels 21 Absatz 3 stellen die Mitgliedstaaten Personen, denen der Flüchtlingsstatus zuerkannt worden ist, einen Aufenthaltstitel aus, der mindestens drei Jahre gültig und verlängerbar sein muss, es sei denn, dass zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung dem entgegenstehen.

(2) So bald wie möglich nach Zuerkennung des internationalen Schutzes stellen die Mitgliedstaaten Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist, und ihren Familienangehörigen einen verlängerbaren Aufenthaltstitel aus, der mindestens ein Jahr und im Fall der Verlängerung mindestens zwei Jahre gültig sein muss, es sei denn, dass zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung dem entgegenstehen.“

17 Art. 25 der Richtlinie bestimmt:

„(1) Die Mitgliedstaaten stellen Personen, denen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist...

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