R.N.N.S. and K.A. v Minister van Buitenlandse Zaken.

JurisdictionEuropean Union
Date24 November 2020
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

24. November 2020(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Visakodex der Gemeinschaft – Verordnung (EG) Nr. 810/2009 – Art. 32 Abs. 1 bis 3 – Entscheidung über die Visumverweigerung – Anhang VI – Einheitliches Formblatt – Begründung – Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit oder die öffentliche Gesundheit oder für die internationalen Beziehungen eines oder mehrerer Mitgliedstaaten – Art. 22 – Verfahren der vorherigen Konsultation der zentralen Behörden anderer Mitgliedstaaten – Einwand gegen die Visumerteilung – Rechtsmittel gegen die Entscheidung über die Visumverweigerung – Umfang der gerichtlichen Kontrolle – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf“

In den verbundenen Rechtssachen C-225/19 und C-226/19

betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats Haarlem (Gericht Den Haag, Außenstelle Haarlem, Niederlande), mit Entscheidungen vom 5. März 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 14. März 2019, in den Verfahren

R. N. N. S. (C-225/19),

K. A. (C-226/19)

gegen

Minister van Buitenlandse Zaken

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev, E. Regan, L. Bay Larsen, N. Piçarra und A. Kumin, des Richters T. von Danwitz, der Richterin C. Toader sowie der Richter M. Safjan, D. Šváby, C. Lycourgos, P. G. Xuereb und I. Jarukaitis,

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– von R. N. N. S., vertreten durch E. Schoneveld und I. Vennik, advocaten,

– der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, M. H. S. Gijzen und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,

– der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil, A. Brabcová und A. Pagáčová als Bevollmächtigte,

– der deutschen Regierung, vertreten durch R. Kanitz und J. Möller als Bevollmächtigte,

– der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Pucciariello, avvocato dello Stato,

– der litauischen Regierung, vertreten durch K. Dieninis und K. Juodelytė als Bevollmächtigte,

– der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Wils und C. Cattabriga als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 9. September 2020

folgendes

Urteil

1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 32 Abs. 1 bis 3 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (ABl. 2009, L 243, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 610/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. 2013, L 182, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Visakodex) im Licht der Art. 41 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2 Diese Ersuchen ergehen im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten zwischen R. N. N. S. (Rechtssache C-225/19) bzw. K. A. (Rechtssache C-226/19) auf der einen Seite und dem Minister van Buitenlandse Zaken (Außenminister, Niederlande, im Folgenden: Minister) auf der anderen Seite wegen dessen Weigerung, ihnen ein Visum zu erteilen.

Rechtlicher Rahmen

3 Im 29. Erwägungsgrund des Visakodex heißt es:

„Diese Verordnung steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen] Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten des Europarates und der Charta ... anerkannt wurden.“

4 Art. 1 Abs. 1 des Visakodex lautet:

„Mit dieser Verordnung werden die Verfahren und Voraussetzungen für die Erteilung von Visa für die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder für geplante Aufenthalte in diesem Gebiet von höchstens 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen festgelegt.“

5 In Art. 21 Abs. 3 des Visakodex heißt es:

„Bei der Kontrolle, ob der Antragsteller die Einreisevoraussetzungen erfüllt, prüft das Konsulat,

...

d) ob der Antragsteller keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit oder die öffentliche Gesundheit im Sinne von Artikel 2 Nummer 19 [der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1)] oder für die internationalen Beziehungen eines Mitgliedstaats darstellt und ob er insbesondere nicht in den nationalen Datenbanken der Mitgliedstaaten zur Einreiseverweigerung aus denselben Gründen ausgeschrieben worden ist;

...“

6 Art. 22 („Vorherige Konsultation der zentralen Behörden anderer Mitgliedstaaten“) des Visakodex sieht vor:

„(1) Ein Mitgliedstaat kann verlangen, dass die zentralen Behörden anderer Mitgliedstaaten seine zentralen Behörden bei der Prüfung der von Staatsangehörigen spezifischer Drittländer oder von spezifischen Gruppen von Staatsangehörigen dieser Länder eingereichten Anträge konsultieren. Diese Konsultationspflicht gilt nicht für Anträge auf Erteilung eines Visums für den Flughafentransit.

(2) Die konsultierten zentralen Behörden beantworten das Ersuchen auf jeden Fall innerhalb von sieben Kalendertagen nach dessen Eingang. Antworten sie nicht innerhalb dieser Frist, so bedeutet dies, dass keine Einwände gegen die Erteilung des Visums bestehen.

...“

7 Art. 25 des Visakodex sieht vor:

„(1) Ein Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit wird in folgenden Ausnahmefällen erteilt:

a) wenn der betreffende Mitgliedstaat es aus humanitären Gründen, aus Gründen des nationalen Interesses oder aufgrund internationaler Verpflichtungen für erforderlich hält,

i) von dem Grundsatz abzuweichen, dass die in Artikel 5 Absatz 1 Buchstaben a, c, d und e des Schengener Grenzkodexes festgelegten Einreisevoraussetzungen erfüllt sein müssen,

ii) ein Visum zu erteilen, obwohl der gemäß Artikel 22 konsultierte Mitgliedstaat Einwände gegen die Erteilung eines einheitlichen Visums erhebt, oder

iii) ein Visum aus dringlichen Gründen zu erteilen, obwohl keine vorherige Konsultation gemäß Artikel 22 durchgeführt wurde,

oder

b) wenn aus von dem Konsulat als gerechtfertigt angesehenen Gründen dem Antragsteller erneut ein Visum für einen Aufenthalt innerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen erteilt wird, innerhalb dessen er bereits ein einheitliches Visum oder ein Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit für einen Aufenthalt von 90 Tagen verwendet hat.

(2) Ein Visum mit räumlich beschränkter Gültigkeit ist für das Hoheitsgebiet des ausstellenden Mitgliedstaats gültig. In Ausnahmefällen kann es für das Hoheitsgebiet von mehr als einem Mitgliedstaat gültig sein, sofern die betreffenden Mitgliedstaaten dem zustimmen.

...“

8 Art. 32 („Visumverweigerung“) des Visakodex bestimmt:

„(1) Unbeschadet des Artikels 25 Absatz 1 wird das Visum verweigert,

a) wenn der Antragsteller:

...

vi) als eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit oder die öffentliche Gesundheit im Sinne von Artikel 2 [Nummer] 19 des Schengener Grenzkodexes oder für die internationalen Beziehungen eines Mitgliedstaats eingestuft wird, insbesondere wenn er in den nationalen Datenbanken der Mitgliedstaaten zur Einreiseverweigerung aus denselben Gründen ausgeschrieben worden ist;

...

(2) Eine Entscheidung über die Verweigerung und die entsprechende Begründung werden dem Antragsteller unter Verwendung des [einheitlichen Formblatts] in Anhang VI mitgeteilt.

(3) Antragstellern, deren Visumantrag abgelehnt wurde, steht ein Rechtsmittel zu. Die Rechtsmittel sind gegen den Mitgliedstaat, der endgültig über den Visumantrag entschieden hat, und in Übereinstimmung mit dem innerstaatlichen Recht dieses Mitgliedstaats zu führen. Die Mitgliedstaaten informieren die Antragsteller über das im Falle der Einlegung eines Rechtsmittels zu befolgende Verfahren nach Anhang VI.

...

(5) Gemäß Artikel 12 der [Verordnung (EG) Nr. 767/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Juli 2008 über das Visa-Informationssystem (VIS) und den Datenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten über Visa für einen kurzfristigen Aufenthalt (VIS-Verordnung) (ABl. 2008, L 218, S. 60)] sind die Daten zu verweigerten Visa in das VIS einzugeben.“

9 Anhang VI des Visakodex enthält ein „einheitliches Formblatt zur Unterrichtung über die Verweigerung, Annullierung oder Aufhebung eines Visums und zur entsprechenden Begründung“ (im Folgenden: einheitliches Formblatt). Dieses Formblatt enthält u. a. unter dem Satz „Diese Entscheidung stützt sich auf den folgenden Grund/die folgenden Gründe“ elf – von der zuständigen Behörde anzukreuzende – Kästchen, neben denen jeweils ein oder mehrere vordefinierte Gründe für die Verweigerung, Annullierung oder Aufhebung eines Visums stehen. Das sechste dieser Kästchen entspricht folgenden Verweigerungsgründen:

„Ein oder mehrere Mitgliedstaaten sind der Auffassung, dass Sie eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit, die öffentliche Gesundheit gemäß Artikel 2 [Nummer] 19 der [Verordnung Nr. 562/2006] oder die internationalen Beziehungen eines oder mehrerer Mitgliedstaaten darstellen.“

10 Das einheitliche Formblatt enthält auch eine Rubrik mit der Überschrift...

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