Opinion of Advocate General Medina delivered on 15 September 2022.

JurisdictionEuropean Union
Date15 September 2022
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

LAILA MEDINA

vom 15. September 2022(1)

Rechtssache C407/21

Union fédérale des consommateurs – Que choisir (UFC – Que choisir),

Consommation, logement et cadre de vie (CLCV)

gegen

Premier ministre,

Ministre de l’Économie, des Finances et de la Relance

(Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d’État [Staatsrat, Frankreich])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 267 AEUV – Richtlinie (EU) 2015/2302 – Pauschalreise und verbundene Reiseleistungen – Beendigung eines Pauschalreisevertrags – Unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände – Covid‑19 – Art der Rückzahlung der vom Reisenden für die Pauschalreise geleisteten Zahlungen – Erstattung in Geld oder Erstattung in Form eines Gutscheins in entsprechender Höhe – Vorübergehende Ausnahme von der Verpflichtung des Veranstalters, dem Reisenden Zahlungen innerhalb von 14 Tagen nach Beendigung des Pauschalreisevertrags zu erstatten“






Einleitung

1. Der Ausbruch von Covid‑19 wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) am 11. März 2020 zur „Pandemie“ erklärt. Der Generaldirektor der WHO erkannte in seiner einleitenden Stellungnahme in der Medienkonferenz zu Covid‑19 vom selben Tag an, dass die Covid‑19-Pandemie „nicht nur eine Krise der öffentlichen Gesundheit [ist], sondern eine Krise, von der jeder Bereich betroffen sein wird …“. In der Tat haben die Pandemie und die von Regierungen zur Eindämmung des Virus weltweit ergriffenen Notstandsmaßnahmen zu beispiellosen Störungen geführt. Der Philosoph Edgar Morin schrieb, dass diese Pandemie zwar nicht die erste der Geschichte der Menschheit sei, ihre „radikale Neuartigkeit“ aber darin liege, dass sie eine Megakrise herbeigeführt habe, in der politische, wirtschaftliche, soziale, ökologische, nationale [und] globale Krisen in Verbindung miteinander zum Tragen kommen…“(2). Die Pandemie ist auch eine große Herausforderung für das Recht. Von einem Verfasser im Schrifttum ist zu Recht die Ansicht vertreten worden, dass sie ein „Stresstest“(3) für das Vertragsrecht sei, da sie möglicherweise „eine harte Probe dafür ist, ob das geltende Recht geeignet ist, ein geeignetes Mittel zur Reaktion [auf ihre Folgen] bereitzustellen“(4).

2. Zu den von der Covid‑19-Pandemie am schwersten und unmittelbarsten beeinträchtigten Sektoren gehörte der Tourismus. Die wirtschaftlichen Auswirkungen sind „beispiellos“ mit Blick darauf, dass der Tourismus mit 7 % des Welthandels im Jahr 2019 die drittgrößte Exportkategorie darstellt und „alle Teile seiner enormen Wertschöpfungskette beeinträchtigt worden sind“(5). Die Lockdowns, die Ausgangssperren, die Reiseverbote und die Schließung von Grenzen schränkten die Grundvoraussetzung des Reisens, nämlich die Freizügigkeit, erheblich ein. Durch die zur Eindämmung des Virus von Regierungen angeordneten Einschränkungen kam die Tätigkeit von Pauschalreiseveranstaltern, Beförderern und Unternehmen des Reisesektors allgemein unmittelbar zum Erliegen. Darüber hinaus hatten sie mit weitreichenden Stornierungen und Erstattungsforderungen zu kämpfen.

3. Die vorliegende Rechtssache betrifft insbesondere die Frage des Erlasses nationaler Maßnahmen, die vorübergehende Ausnahmen vom Verbraucherrecht für Pauschalreiseverträge vorsehen. Die angefochtenen Maßnahmen ermöglichten Pauschalreiseveranstaltern u. a., Reisenden anstelle von Erstattungen Gutscheine auszustellen, um so ihre unmittelbaren Liquiditätsschwierigkeiten beherrschen zu können. Mit Blick auf den Kontext der Gesundheitskrise geht die Rechtssache über die Klärung von Ansprüchen des Verbraucherrechts der Union hinaus. Sie wirft die Frage auf, ob die Angemessenheit des bestehenden rechtlichen Rahmens beim Umgang mit der Covid‑19-Pandemie möglicherweise an Grenzen stößt. Sie berührt ferner den Bereich der Notstandsbefugnisse der Mitgliedstaaten im Kontext der „pandemischen Notlage“(6).

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie (EU) 2015/2302

4. Die Erwägungsgründe 31 und 40 der Richtlinie (EU) 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/314/EWG des Rates (ABl. 2015, L 326, S. 1) lauten:

„(31) Reisende sollten … ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Pauschalreisevertrag zurücktreten können, wenn die Durchführung der Reise durch unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände erheblich beeinträchtigt wird. Dies kann zum Beispiel Kriegshandlungen, andere schwerwiegende Beeinträchtigungen der Sicherheit wie Terrorismus, erhebliche Risiken für die menschliche Gesundheit wie einen Ausbruch einer schweren Krankheit am Reiseziel oder Naturkatastrophen wie Hochwasser oder Erdbeben oder Witterungsverhältnisse, die eine sichere Reise an das im Pauschalreisevertrag vereinbarte Reiseziel unmöglich machen, umfassen.

(40) Damit der Schutz vor Insolvenz wirksam ist, sollte er die vorhersehbaren Zahlungsbeträge, die von der Insolvenz eines Reiseveranstalters betroffen sind, und gegebenenfalls die vorsehbaren Kosten der Rückbeförderungen abdecken. … Ein wirksamer Insolvenzschutz sollte jedoch nicht bedeuten, dass sehr unwahrscheinliche Risiken berücksichtigt werden müssen, wie beispielsweise die gleichzeitige Insolvenz mehrerer der größten Reiseveranstalter, wenn dies unverhältnismäßige Auswirkungen auf die Kosten des Schutzes haben und somit seine Wirksamkeit beeinträchtigen würde. In solchen Fällen kann die garantierte Erstattung begrenzt sein.“

5. In Art. 3 Nr. 12 dieser Richtlinie ist der Begriff „unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände“ definiert als „eine Situation außerhalb der Kontrolle der Partei, die eine solche Situation geltend macht, deren Folgen sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Vorkehrungen getroffen worden wären“.

6. Art. 4 („Grad der Harmonisierung“) der Richtlinie 2015/2302 bestimmt:

„Sofern diese Richtlinie nichts anderes bestimmt, erhalten die Mitgliedstaaten weder von den Bestimmungen dieser Richtlinie abweichende nationale Rechtsvorschriften aufrecht noch führen sie solche ein; dies gilt auch für strengere oder weniger strenge Rechtsvorschriften zur Gewährleistung eines anderen Schutzniveaus für den Reisenden.“

7. Art. 12 der Richtlinie 2015/2302 sieht vor:

„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass der Reisende vor Beginn der Pauschalreise jederzeit vom Pauschalreisevertrag zurücktreten kann. Tritt der Reisende gemäß diesem Absatz vom Pauschalreisevertrag zurück, so kann der Reiseveranstalter die Zahlung einer angemessenen und vertretbaren Rücktrittsgebühr verlangen. …

(2) Ungeachtet des Absatzes 1 hat der Reisende das Recht, vor Beginn der Pauschalreise ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Pauschalreisevertrag zurückzutreten, wenn am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen. Im Fall des Rücktritts vom Pauschalreisevertrag gemäß diesem Absatz hat der Reisende Anspruch auf volle Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen, jedoch auf keine zusätzliche Entschädigung.

(3) Der Reiseveranstalter kann den Pauschalreisevertrag beenden und dem Reisenden alle für die Pauschalreise getätigten Zahlungen voll erstatten, ohne jedoch eine zusätzliche Entschädigung leisten zu müssen, wenn

b) der Reiseveranstalter aufgrund unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände an der Erfüllung des Vertrags gehindert ist und er den Reisenden unverzüglich vor Beginn der Pauschalreise von der Beendigung des Vertrags in Kenntnis setzt.

(4) Der Reiseveranstalter leistet alle Erstattungen gemäß den Absätzen 2 und 3 oder zahlt dem Reisenden gemäß Absatz 1 alle von dem Reisenden oder in seinem Namen für die Pauschalreise geleisteten Beträge abzüglich einer angemessenen Rücktrittsgebühr zurück. Der Reisende erhält diese Erstattungen oder Rückzahlungen unverzüglich und in jedem Fall innerhalb von spätestens 14 Tagen nach Beendigung des Pauschalreisevertrags.

…“

8. Art. 17 („Wirksamkeit und Umfang des Insolvenzschutzes“) der Richtlinie 2015/2302 lautet:

„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass in ihrem Hoheitsgebiet niedergelassene Reiseveranstalter Sicherheit für die Erstattung aller von Reisenden oder in deren Namen geleisteten Zahlungen leisten, sofern die betreffenden Leistungen infolge der Insolvenz des Reiseveranstalters nicht erbracht werden. …

(2) Die Sicherheit gemäß Absatz 1 muss wirksam sein und die nach vernünftigem Ermessen vorhersehbaren Kosten abdecken. …

…“

9. Art. 23 („Unabdingbarkeit der Richtlinie“) Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2015/2302 bestimmt:

„(2) Reisende dürfen nicht auf die Rechte verzichten, die ihnen aus den nationalen Maßnahmen zur Umsetzung dieser Richtlinie zustehen.

(3) Vertragliche Vereinbarungen oder Erklärungen des Reisenden, die einen Verzicht auf die sich aus dieser Richtlinie ergebenden Rechte oder deren Einschränkung unmittelbar oder mittelbar bewirken oder die darauf gerichtet sind, die Anwendung dieser Richtlinie zu umgehen, sind für den Reisenden nicht bindend.“

Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

10. Bei den Klägerinnen, der Union fédérale des consommateurs – Que choisir (UFC – Que choisir) und der Consommation, logement et cadre de vie (CLCV), handelt es sich um französische Verbraucherinteressenverbände. Sie machen die Rechtswidrigkeit verschiedener Rechtsakte geltend, nämlich u. a. der Ordonnance nº 2020‑315 du 25 mars 2020 relative aux conditions financières de résolution de certains contrats de voyages touristiques et de séjours en cas de circonstances exceptionnelles et inévitables ou de force majeure (Ordonnance Nr. 2020‑315 vom 25. März 2020 über die finanziellen Bestimmungen für die Auflösung bestimmter Verträge über touristische Reisen und Urlaubsaufenthalte im...

To continue reading

Request your trial
3 practice notes
  • Opinion of Advocate General Emiliou delivered on 7 September 2023.
    • European Union
    • Court of Justice (European Union)
    • 7 September 2023
    ...et conclusions de l’avocat général Medina dans l’affaire UFC – Que choisir et CLCV (C‑407/21, EU:C:2022:690, points 1 et 181 Voir Conseil européen, conclusions du président du Conseil européen à la suite de la vidéoconférence sur le COVID-19 tenue avec les membres du Conseil européen, 17 ma......
  • Opinion of Advocate General Emiliou delivered on 2 March 2023.
    • European Union
    • Court of Justice (European Union)
    • 2 March 2023
    ...— c.370 a.C.). 39 Véase asimismo el considerando 15 del Reglamento n.º 261/2004. 40 Conclusiones presentadas en el asunto C‑407/21, EU:C:2022:690, punto 41 Véase también el considerando 13 del Reglamento n.º 261/2004 («mientras esperan un vuelo posterior»). 42 Véase, en este sentido, la sen......
  • Opinion of Advocate General Medina delivered on 7 March 2024.
    • European Union
    • Court of Justice (European Union)
    • 7 March 2024
    ...is not called into question by the considerations I developed in point 61 of my Opinion in UFC – Que choisir and CLCV (C‑407/21, EU:C:2022:690), referred by the Commission in its written observations. The aim of that point was not to analyse in depth the scope of Article 17 of Directive 201......
3 cases
  • Opinion of Advocate General Emiliou delivered on 7 September 2023.
    • European Union
    • Court of Justice (European Union)
    • 7 September 2023
    ...et conclusions de l’avocat général Medina dans l’affaire UFC – Que choisir et CLCV (C‑407/21, EU:C:2022:690, points 1 et 181 Voir Conseil européen, conclusions du président du Conseil européen à la suite de la vidéoconférence sur le COVID-19 tenue avec les membres du Conseil européen, 17 ma......
  • Opinion of Advocate General Emiliou delivered on 2 March 2023.
    • European Union
    • Court of Justice (European Union)
    • 2 March 2023
    ...— c.370 a.C.). 39 Véase asimismo el considerando 15 del Reglamento n.º 261/2004. 40 Conclusiones presentadas en el asunto C‑407/21, EU:C:2022:690, punto 41 Véase también el considerando 13 del Reglamento n.º 261/2004 («mientras esperan un vuelo posterior»). 42 Véase, en este sentido, la sen......
  • Opinion of Advocate General Medina delivered on 7 March 2024.
    • European Union
    • Court of Justice (European Union)
    • 7 March 2024
    ...is not called into question by the considerations I developed in point 61 of my Opinion in UFC – Que choisir and CLCV (C‑407/21, EU:C:2022:690), referred by the Commission in its written observations. The aim of that point was not to analyse in depth the scope of Article 17 of Directive 201......

VLEX uses login cookies to provide you with a better browsing experience. If you click on 'Accept' or continue browsing this site we consider that you accept our cookie policy. ACCEPT