Judgment of the Court (Grand Chamber) of 22 February 2022. Reference for a preliminary ruling – Rule of law – Independence of the judiciary – Second subparagraph of Article 19(1) TEU – Article 47 of the Charter of Fundamental Rights of the European Union – Primacy of EU law – Lack of jurisdiction of a national court to examine the conformity with EU law of national legislation found to be constitutional by the constitutional court of the Member State concerned – Disciplinary proceedings.#Case C-430/21.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2022:99
Date22 February 2022
Docket NumberC-430/21
Celex Number62021CJ0430
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

22. Februar 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsstaatlichkeit – Unabhängigkeit der Justiz – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Vorrang des Unionsrechts – Fehlende Befugnis eines nationalen Gerichts, nationale Rechtsvorschriften, die vom Verfassungsgericht des betreffenden Mitgliedstaats für verfassungsgemäß erklärt wurden, auf ihre Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht zu prüfen – Disziplinarverfahren“

In der Rechtssache C‑430/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curtea de Apel Craiova (Berufungsgericht Craiova, Rumänien) mit Entscheidung vom 7. Juli 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Juli 2021, in dem Verfahren

RS

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, C. Lycourgos, E. Regan und S. Rodin, der Kammerpräsidentin I. Ziemele und des Kammerpräsidenten J. Passer, der Richter F. Biltgen, P. G. Xuereb, N. Piçarra, der Richterin L. S. Rossi, der Richter N. Wahl und D. Gratsias sowie der Richterin M. L. Arastey Sahún,

Generalanwalt: A. M. Collins,

Kanzler: C. Di Bella, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 23. November 2021,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane, L. Liţu und L.‑E. Baţagoi als Bevollmächtigte im Beistand von M. Manolache,

– der belgischen Regierung, vertreten durch L. Van den Broeck, M. Jacobs und C. Pochet als Bevollmächtigte,

– der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch P. J. O. Van Nuffel, I. Rogalski und K. Herrmann als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. Januar 2022

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2 Es ergeht im Rahmen einer von RS erhobenen Beschwerde, mit der die Dauer der infolge einer Anzeige seiner Ehefrau eingeleiteten Strafverfolgung gerügt wird.

Rechtlicher Rahmen

Verfassung Rumäniens

3 Art. 148 Abs. 2 und 4 der Constituția României (Verfassung Rumäniens) sieht vor:

„(2) Infolge des Beitritts gehen die Vorschriften der Gründungsverträge der Europäischen Union sowie die anderen zwingenden Vorschriften des Gemeinschaftsrechts entgegenstehenden Bestimmungen des nationalen Rechts nach Maßgabe der Beitrittsakte vor.

(4) Das Parlament, der Präsident Rumäniens, die Regierung und die Recht sprechende Gewalt gewährleisten die Erfüllung der sich aus der Beitrittsakte und den Bestimmungen in Abs. 2 ergebenden Pflichten.“

Codul de procedură penală (Strafprozessordnung)

4 Art. 4881 des Codul de procedură penală (Strafprozessordnung) sieht vor, dass in Verfahren, die sich im Stadium des Ermittlungsverfahrens befinden, frühestens ein Jahr nach Einleitung der Strafverfolgung eine Beschwerde eingelegt werden kann, um die Beschleunigung eines Strafverfahrens zu beantragen.

5 Gemäß Art. 4885 der Strafprozessordnung hat der für Rechte und Freiheiten zuständige Richter oder das zuständige Gericht die Angemessenheit der Dauer der Strafverfolgung anhand einer Reihe von in dieser Bestimmung genannten Gesichtspunkten zu beurteilen.

6 Art. 4886 Abs. 1 der Strafprozessordnung sieht vor, dass der für Rechte und Freiheiten zuständige Richter, wenn er den Antrag für begründet hält, der Staatsanwaltschaft eine Frist zur abschließenden Bearbeitung der Sache setzt.

Gesetz Nr. 303/2004

7 Art. 99 Buchst. ș der Legea nr. 303/2004 privind statutul judecătorilor și procurorilor (Gesetz Nr. 303/2004 über die Rechtsstellung der Richter und Staatsanwälte) vom 28. Juni 2004 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 826 vom 13. September 2005) in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz Nr. 303/2004) sieht u. a. vor, dass die Nichtbeachtung von Entscheidungen der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) ein Disziplinarvergehen darstellt.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

8 Gegen RS wurde ein Strafverfahren eingeleitet, in dem er verurteilt wurde.

9 Am 1. April 2020 erstattete die Ehefrau von RS Strafanzeige, mit der sie u. a. Straftaten der unrechtmäßigen Strafverfolgung und des Amtsmissbrauchs beanstandete, die im Rahmen dieses Strafverfahrens von einem Staatsanwalt und zwei Richtern begangen worden sein sollen.

10 Da diese Anzeige u. a. Richter betrifft, fällt ihre Prüfung in die Zuständigkeit der Secția pentru Investigarea Infracțiunilor din Justiție (Abteilung für die Untersuchung von Straftaten innerhalb der Justiz, im Folgenden: AUSJ), die beim Parchetul de pe lângă Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie (Staatsanwaltschaft beim Obersten Kassations- und Gerichtshof, Rumänien) angesiedelt ist. Mit Beschluss vom 14. April 2020 leitete ein Staatsanwalt der AUSJ gegen die von dieser Strafanzeige betroffenen Richter wegen Straftaten der unrechtmäßigen Strafverfolgung und des Amtsmissbrauchs ein Strafverfahren ein.

11 Am 10. Juni 2021 erhob RS beim vorlegenden Gericht eine Beschwerde nach den Art. 4881 ff. der Strafprozessordnung, mit der er die übermäßige Dauer der auf diese Anzeige hin eingeleiteten Ermittlungen rügte und beantragte, dem mit dieser Strafanzeige befassten Staatsanwalt eine Frist zur abschließenden Bearbeitung der Sache zu setzen.

12 Dieses Gericht ist der Ansicht, dass es für die Entscheidung über diese Beschwerde die nationalen Rechtsvorschriften, mit denen die AUSJ errichtet worden sei, prüfen müsse.

13 Der Gerichtshof habe sich bereits im Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia „Forumul judecătorilor Din România“ u. a. (C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393), zu Fragen hinsichtlich dieser nationalen Rechtsvorschriften geäußert.

14 Aus diesem Urteil gehe u. a. hervor, dass das Unionsrecht, insbesondere Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, dahin auszulegen sei, dass es einer nationalen Regelung entgegenstehe, die die Errichtung einer spezialisierten Abteilung der Staatsanwaltschaft mit ausschließlicher Zuständigkeit für die Untersuchung von durch Richter und Staatsanwälte begangenen Straftaten vorsehe, ohne dass die Errichtung einer solchen Abteilung durch objektive und überprüfbare Erfordernisse einer geordneten Rechtspflege gerechtfertigt sei und mit besonderen Garantien einhergehe. Diese Garantien müssten es zum einen ermöglichen, jede Gefahr auszuschließen, dass diese Abteilung als ein Instrument zur politischen Kontrolle der Tätigkeit dieser Richter und Staatsanwälte verwendet werde, das deren Unabhängigkeit beeinträchtigen könnte, und zum anderen, sicherzustellen, dass diese Zuständigkeit gegenüber Letztgenannten unter vollumfänglicher Beachtung der sich aus den Art. 47 und 48 der Charta ergebenden Anforderungen wahrgenommen werden könne.

15 Außerdem habe der Gerichtshof in Nr. 7 des Tenors dieses Urteils für Recht erkannt, dass der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen sei, dass er einer Regelung mit Verfassungsrang eines Mitgliedstaats in der Auslegung durch das Verfassungsgericht dieses Staates entgegenstehe, wonach ein untergeordnetes Gericht nicht berechtigt sei, eine in den Anwendungsbereich der Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung (ABl. 2006, L 354, S. 56) fallende nationale Bestimmung, die es im Licht eines Urteils des Gerichtshofs als mit dieser Entscheidung oder mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV unvereinbar ansehe, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet zu lassen.

16 Das vorlegende Gericht verweist ganz allgemein auf die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach jedes nationale Gericht verpflichtet ist, in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit jede nationale Bestimmung, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung entgegensteht, unangewendet zu lassen, sowie auf die Verbindlichkeit der vom Gerichtshof in Vorabentscheidungsverfahren erlassenen Urteile.

17 Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, dass Art. 148 Abs. 2 und 4 der rumänischen Verfassung den Vorrang der unionsrechtlichen Vorschriften vorsehe.

18 Allerdings habe die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) mit Urteil Nr. 390/2021 vom 8. Juni 2021 eine Einrede der Verfassungswidrigkeit in Bezug auf mehrere Bestimmungen der die AUSJ betreffenden Regelung als unbegründet zurückgewiesen.

19 In diesem Urteil habe die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) u. a. klargestellt, dass sie, da der dem Unionsrecht zuerkannte Vorrang in der rumänischen Rechtsordnung durch das Erfordernis der Achtung der nationalen Verfassungsidentität beschränkt sei, verpflichtet sei, den Vorrang der rumänischen Verfassung im rumänischen Hoheitsgebiet zu gewährleisten. Folglich dürfe ein ordentliches Gericht zwar die Vereinbarkeit einer Bestimmung des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht prüfen, sei aber nicht befugt, die Vereinbarkeit einer nationalen Bestimmung, die von der Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) für mit Art. 148 der rumänischen Verfassung vereinbar erklärt worden sei, mit dem Unionsrecht zu prüfen.

20 Die Curtea Constituțională (Verfassungsgerichtshof) habe weiter ausgeführt, dass Nr. 7 des Tenors des Urteils vom 18. Mai 2021, Asociaţia „Forumul Judecătorilor Din România“ u. a. (C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393), jeglicher Grundlage in der rumänischen Verfassung entbehre. Art. 148 der Verfassung schreibe zwar den Vorrang des Unionsrechts vor...

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