Rad Service Srl Unipersonale and Others v Del Debbio SpA and Others.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2021:445
Date03 June 2021
Docket NumberC-210/20
Celex Number62020CJ0210
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)

3. Juni 2021(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Vergabe öffentlicher Dienstleistungs-, Liefer- und Bauaufträge – Richtlinie 2014/24/EU – Ablauf des Verfahrens – Auswahl der Teilnehmer und Auftragsvergabe – Art. 63 – Bieter, der die Kapazitäten eines anderen Unternehmens in Anspruch nimmt, um die Anforderungen des öffentlichen Auftraggebers zu erfüllen – Art. 57 Abs. 4, 6 und 7 – Von diesem Unternehmen eingereichte unwahre Erklärungen – Ausschluss des Bieters, ohne ihn zu verpflichten oder ihm zu erlauben, dieses Unternehmen zu ersetzen – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“

In der Rechtssache C‑210/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) mit Entscheidung vom 20. Februar 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 30. März 2020, in dem Verfahren

Rad Service Srl Unipersonale,

Cosmo Ambiente Srl,

Cosmo Scavi Srl

gegen

Del Debbio SpA,

Gruppo Sei Srl,

Ciclat Val di Cecina Soc. Coop.,

Daf Costruzioni Stradali Srl,

Beteiligte:

Azienda Unità Sanitaria Locale USL Toscana Centro,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Piçarra sowie der Richter D. Šváby (Berichterstatter) und S. Rodin,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der Del Debbio SpA, der Gruppo Sei Srl und der Ciclat Val di Cecina Soc. Coop., vertreten durch A. Manzi und F. Bertini, avvocati,

– der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von C. Colelli und S. L. Vitale, avvocati dello Stato,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Gattinara, P. Ondrůšek und K. Talabér-Ritz als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 49 und 56 AEUV sowie von Art. 63 der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG (ABl. 2014, L 94, S. 65).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen den zur Arbeitsgemeinschaft (ARGE) Rad Service zusammengeschlossenen Unternehmen Rad Service Srl Unipersonale, Cosmo Ambiente Srl und Cosmo Scavi Srl (im Folgenden: ARGE Rad Service) auf der einen und der Del Debbio SpA, der Gruppo Sei Srl, der Ciclat Val di Cecina Soc. Coop. (im Folgenden: ARGE Del Debbio) sowie der aus den Unternehmen DAF Costruzioni Stradali Srl, GARC SpA und Edil Moter Srl gebildeten Arbeitsgemeinschaft (im Folgenden: ARGE Daf) auf der anderen Seite über die Entscheidung der Azienda Unità Sanitaria Locale Toscana Centro (lokale Gesundheitsbehörde der Region Toskana Mitte, Italien), die ARGE Del Debbio von einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Bauauftrags auszuschließen.

Rechtlicher Rahmen

Richtlinie 2014/24

3 Die Erwägungsgründe 84, 101 und 102 der Richtlinie 2014/24 lauten:

„(84) Nach Auffassung vieler Wirtschaftsteilnehmer – und nicht zuletzt der [kleinen und mittleren Unternehmen (KMU)] – ist eines der Haupthindernisse für ihre Beteiligung an öffentlichen Vergabeverfahren der Verwaltungsaufwand im Zusammenhang mit der Beibringung einer Vielzahl von Bescheinigungen oder anderen Dokumenten, die die Ausschluss- und Eignungskriterien betreffen. Eine Beschränkung der entsprechenden Anforderungen, beispielsweise durch die Verwendung einer Einheitlichen Europäischen Eigenerklärung, die aus einer aktualisierten Eigenerklärung besteht, könnte eine erhebliche Vereinfachung zum Nutzen sowohl der öffentlichen Auftraggeber als auch der Wirtschaftsteilnehmer bedeuten.

Der Bieter, dem der Zuschlag erteilt werden soll, sollte jedoch die relevanten Nachweise vorlegen müssen; öffentliche Auftraggeber sollten keine Verträge mit Bietern schließen, die dazu nicht in der Lage sind. Öffentliche Auftraggeber sollten auch berechtigt sein, jederzeit sämtliche oder einen Teil der unterstützenden Unterlagen zu verlangen, wenn dies ihrer Ansicht nach zur angemessenen Durchführung des Verfahrens erforderlich ist. Insbesondere könnte dies der Fall sein bei zweistufigen Verfahren – nichtoffenen Verfahren, Verhandlungsverfahren, wettbewerblichen Dialogen und Innovationspartnerschaften –, bei denen die öffentlichen Auftraggeber von der Möglichkeit Gebrauch machen, die Anzahl der zur Einreichung eines Angebots aufgeforderten Bewerber zu begrenzen. Zu verlangen, dass unterstützende Unterlagen zum Zeitpunkt der Auswahl der einzuladenden Bewerber vorgelegt werden, ließe sich damit begründen, zu vermeiden, dass öffentliche Auftraggeber Bewerber einladen, die sich später in der Vergabestufe als unfähig erweisen, die zusätzlichen Unterlagen einzureichen, und damit geeigneten Bewerbern die Möglichkeit der Teilnahme nehmen.

Es sollte ausdrücklich angegeben werden, dass die Einheitliche Europäische Eigenerklärung auch die relevanten Informationen hinsichtlich der Unternehmen, deren Kapazitäten ein Wirtschaftsteilnehmer in Anspruch nimmt, enthalten sollte, so dass die Überprüfung der Informationen über diese Unternehmen zusammen mit der Überprüfung bezüglich des Hauptwirtschaftsteilnehmers und unter den gleichen Voraussetzungen durchgeführt werden kann.

(101) Öffentliche Auftraggeber sollten ferner die Möglichkeit erhalten, Wirtschaftsteilnehmer auszuschließen, die sich als unzuverlässig erwiesen haben, beispielsweise wegen Verstoßes gegen umwelt- oder sozialrechtliche Verpflichtungen, einschließlich Vorschriften zur Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen, oder wegen anderer Formen schwerwiegenden beruflichen Fehlverhaltens wie der Verletzung von Wettbewerbsregeln oder Rechten des geistigen Eigentums. Es sollte klargestellt werden, dass schwerwiegendes berufliches Fehlverhalten die Integrität eines Wirtschaftsteilnehmers infrage stellen und dazu führen kann, dass er – auch wenn er ansonsten über die technische und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zur Auftragsausführung verfügen würde – als für die Vergabe eines öffentlichen Auftrags ungeeignet betrachtet wird.

Unter Berücksichtigung dessen, dass der öffentliche Auftraggeber für die Folgen seiner möglicherweise falschen Entscheidung die Verantwortung zu tragen hat, sollte es öffentlichen Auftraggebern auch überlassen bleiben, festzustellen, dass ein schwerwiegendes berufliches Fehlverhalten vorliegt, wenn sie vor einer endgültigen und verbindlichen Entscheidung über das Vorliegen zwingender Ausschlussgründe in geeigneter Form nachweisen können, dass der Wirtschaftsteilnehmer gegen seine Verpflichtungen verstoßen hat, wozu auch Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Zahlung von Steuern oder Sozialversicherungsbeiträgen zählen, sofern in den nationalen Rechtsvorschriften nichts anderes vorgesehen ist. Es sollte ihnen auch möglich sein, Bewerber oder Bieter auszuschließen, deren Leistung bei früheren öffentlichen Aufträgen im Hinblick auf wesentliche Anforderungen erhebliche Mängel aufwies, zum Beispiel Lieferungsausfall oder Leistungsausfall, erhebliche Defizite der gelieferten Waren oder Dienstleistungen, die sie für den beabsichtigten Zweck unbrauchbar machen, oder Fehlverhalten, das ernste Zweifel an der Zuverlässigkeit des Wirtschaftsteilnehmers aufkommen lässt. In den nationalen Rechtsvorschriften sollte eine Höchstdauer für solche Ausschlüsse vorgesehen sein.

Bei der Anwendung fakultativer Ausschlussgründe sollten die öffentlichen Auftraggeber insbesondere dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung tragen. Kleinere Unregelmäßigkeiten sollten nur in Ausnahmefällen zum Ausschluss eines Wirtschaftsteilnehmers führen. Wiederholte Fälle kleinerer Unregelmäßigkeiten können allerdings Zweifel an der Zuverlässigkeit eines Wirtschaftsteilnehmers wecken, die seinen Ausschluss rechtfertigen könnten.

(102) Es sollte jedoch berücksichtigt werden, dass Wirtschaftsteilnehmer Compliance-Maßnahmen treffen können, um die Folgen etwaiger strafrechtlicher Verstöße oder eines Fehlverhaltens zu beheben und weiteres Fehlverhalten wirksam zu verhindern. Bei diesen Maßnahmen kann es sich insbesondere um Personal- und Organisationsmaßnahmen handeln, wie den Abbruch aller Verbindungen zu an dem Fehlverhalten beteiligten Personen oder Organisationen, geeignete Personalreorganisationsmaßnahmen, die Einführung von Berichts- und Kontrollsystemen, die Schaffung einer internen Audit-Struktur zur Überwachung der Compliance oder die Einführung interner Haftungs- und Entschädigungsregelungen. Soweit derartige Maßnahmen ausreichende Garantien bieten, sollte der jeweilige Wirtschaftsteilnehmer nicht länger alleine aus diesen Gründen ausgeschlossen werden. Wirtschaftsteilnehmer sollten beantragen können, dass die im Hinblick auf ihre etwaige Zulassung zum Vergabeverfahren getroffenen Compliance-Maßnahmen geprüft werden. Es sollte jedoch den Mitgliedstaaten überlassen werden, die genauen verfahrenstechnischen und inhaltlichen Bedingungen zu bestimmen, die in diesem Fall gelten. Es sollte ihnen insbesondere freistehen zu entscheiden, es den jeweiligen öffentlichen Auftraggebern zu überlassen, die einschlägigen Bewertungen vorzunehmen, oder sie anderen Behörden auf zentraler oder dezentraler Ebene zu übertragen.“

4 Art. 18 („Grundsätze der Auftragsvergabe“) dieser Richtlinie sieht in Abs. 1 Unterabs. 1 vor:

„Die öffentlichen Auftraggeber behandeln alle Wirtschaftsteilnehmer in gleicher und nichtdiskriminierender Weise und handeln transparent und verhältnismäßig.“

5 Art. 57 („Ausschlussgründe“) bestimmt in seinen Abs. 4 bis 7:

„(4) Öffentliche Auftraggeber können in einer der folgenden Situationen einen Wirtschaftsteilnehmer von der Teilnahme an einem Vergabeverfahren ausschließen oder dazu von den Mitgliedstaaten verpflichtet werden:

c) der öffentliche Auftraggeber kann auf geeignete Weise nachweisen...

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