M-GmbH contre Finanzamt für Körperschaften.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2021:285
Date15 April 2021
Docket NumberC-868/19
Celex Number62019CJ0868
CourtCourt of Justice (European Union)

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

15. April 2021(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 9 – Steuerpflichtige – Art. 11 – Befugnis der Mitgliedstaaten, Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln (‚Mehrwertsteuergruppe‘) – Begriff ‚durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden‘ – Nationale Regelung, wonach es Personengesellschaften, deren Gesellschafter neben dem Organträger nicht nur Personen sind, die in das Unternehmen des Organträgers finanziell eingegliedert sind, verwehrt ist, einer Mehrwertsteuergruppe anzugehören – Rechtssicherheit – Maßnahmen zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen oder ‑umgehungen – Verhältnismäßigkeit – Neutralität der Mehrwertsteuer“

In der Rechtssache C‑868/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Finanzgericht Berlin-Brandenburg (Deutschland) mit Entscheidung vom 21. November 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 27. November 2019, in dem Verfahren

M-GmbH

gegen

Finanzamt für Körperschaften Berlin


erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Kumin sowie der Richter T. von Danwitz und P. G. Xuereb (Berichterstatter),

Generalanwalt: G. Pitruzzella,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der M-GmbH, vertreten durch D. Buß, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater,

– der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und S. Eisenberg als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Mantl und N. Gossement als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 11 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der M-GmbH als Gesamtrechtsnachfolgerin der PD GmbH & Co. KG und dem Finanzamt für Körperschaften Berlin (Deutschland) (im Folgenden: Finanzamt) wegen der Mehrwertsteuerpflicht von PD für Dezember 2017.


Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3 Die Erwägungsgründe 4 und 7 der Mehrwertsteuerrichtlinie lauten:

„(4) Voraussetzung für die Verwirklichung des Ziels, einen Binnenmarkt zu schaffen, ist, dass in den Mitgliedstaaten Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuern angewandt werden, durch die die Wettbewerbsbedingungen nicht verfälscht und der freie Waren- und Dienstleistungsverkehr nicht behindert werden. Es ist daher erforderlich, eine Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuern im Wege eines Mehrwertsteuersystems vorzunehmen, um so weit wie möglich die Faktoren auszuschalten, die geeignet sind, die Wettbewerbsbedingungen sowohl auf nationaler Ebene als auch auf Gemeinschaftsebene zu verfälschen.

(7) Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sollte, selbst wenn die Sätze und Befreiungen nicht völlig harmonisiert werden, eine Wettbewerbsneutralität in dem Sinne bewirken, dass gleichartige Gegenstände und Dienstleistungen innerhalb des Gebiets der einzelnen Mitgliedstaaten ungeachtet der Länge des Produktions- und Vertriebswegs steuerlich gleich belastet werden.“

4 Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.

Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.“

5 Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„Nach Konsultation des Beratenden Ausschusses für die Mehrwertsteuer (nachstehend ‚Mehrwertsteuerausschuss‘ genannt) kann jeder Mitgliedstaat in seinem Gebiet ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen behandeln.


Ein Mitgliedstaat, der die in Absatz 1 vorgesehene Möglichkeit in Anspruch nimmt, kann die erforderlichen Maßnahmen treffen, um Steuerhinterziehungen oder ‑umgehungen durch die Anwendung dieser Bestimmung vorzubeugen.“

Deutsches Recht

6 In § 2 („Unternehmer, Unternehmen“) des Umsatzsteuergesetzes vom 21. Februar 2005 (BGBl. 2005 I S. 386, im Folgenden: UStG) heißt es:

„(1) Unternehmer ist, wer eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit selbständig ausübt. Das Unternehmen umfasst die gesamte gewerbliche oder berufliche Tätigkeit des Unternehmers. Gewerblich oder beruflich ist jede nachhaltige Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen, auch wenn die Absicht, Gewinn zu erzielen, fehlt oder eine Personenvereinigung nur gegenüber ihren Mitgliedern tätig wird.

(2) Die gewerbliche oder berufliche Tätigkeit wird nicht selbständig ausgeübt,

2. wenn eine juristische Person nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert ist (Organschaft). Die Wirkungen der Organschaft sind auf Innenleistungen zwischen den im Inland gelegenen Unternehmensteilen beschränkt. Diese Unternehmensteile sind als ein Unternehmen zu behandeln. Hat der Organträger seine Geschäftsleitung im Ausland, gilt der wirtschaftlich bedeutendste Unternehmensteil im Inland als der Unternehmer.

…“

7 § 709 („Gemeinschaftliche Geschäftsführung“) des Bürgerlichen Gesetzbuchs bestimmt in Abs. 1:

„Die Führung der Geschäfte der Gesellschaft steht den Gesellschaftern gemeinschaftlich zu; für jedes Geschäft ist die Zustimmung aller Gesellschafter erforderlich.“

8 Der zum Ersten Abschnitt („Offene Handelsgesellschaft“) des Zweiten Buchs („Handelsgesellschaften und stille Gesellschaft“) des Handelsgesetzbuchs (im Folgenden: HGB) gehörende § 119 sieht in Abs. 1 vor:

„Für die von den Gesellschaftern zu fassenden Beschlüsse bedarf es der Zustimmung aller zur Mitwirkung bei der Beschlussfassung berufenen Gesellschafter.“


9 Der zum Zweiten Abschnitt („Kommanditgesellschaft“) des Zweiten Buchs des HGB gehörende § 161 sieht in Abs. 2 vor:

„Soweit nicht in diesem Abschnitt ein anderes vorgeschrieben ist, finden auf die Kommanditgesellschaft die für die offene Handelsgesellschaft geltenden Vorschriften Anwendung.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

10 PD wurde im Jahr 2010 als GmbH & Co. KG gegründet. Ab Dezember 2017 gehörten ihr die A-GmbH als Komplementärin sowie die Klägerin des Ausgangsverfahrens, die D-GbR und die natürlichen Personen C, D und E als Kommanditisten an.

11 Nach dem Gesellschaftsvertrag von PD besaß jeder Gesellschafter, unabhängig von der Höhe der Pflichteinlagen, eine Stimme. Hiervon abweichend besaß die Klägerin des Ausgangsverfahrens sechs Stimmen. Mit Ausnahme einiger Beschlüsse über die Zusammensetzung der Gesellschafter und über Änderungen des Gesellschaftsvertrags, die der Einstimmigkeit bedurften, wurden sämtliche Beschlüsse von PD mit einfacher Mehrheit gefasst.

12 Ab Dezember 2017 handelten A und die Klägerin des Ausgangsverfahrens durch denselben Geschäftsführer.

13 Nach den Angaben in der Vorlageentscheidung war PD in wirtschaftlicher und organisatorischer Hinsicht in die Klägerin des Ausgangsverfahrens eingegliedert, und zwischen ihnen bestanden umfangreiche Leistungsbeziehungen.

14 PD ging davon aus, dass sie ab Dezember 2017 auch finanziell in die Klägerin des Ausgangsverfahrens eingegliedert gewesen sei, so dass sie und die Klägerin des Ausgangsverfahrens eine Organschaft im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG – mit dem im deutschen Recht die in Art. 11 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Möglichkeit umgesetzt werden soll, Personen, die rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln – gebildet hätten. Da PD deshalb der Ansicht war, dass die Mehrwertsteuer von der Klägerin des Ausgangsverfahrens zu tragen sei, reichte sie für diesen Monat keine Umsatzsteuer-Voranmeldung ein.

15 Mit Bescheid vom 9. Mai 2018 setzte das Finanzamt eine Umsatzsteuer-Vorauszahlung von PD für Dezember 2017 fest. Ferner setzte es einen Verspätungszuschlag fest.


16 Der von PD gegen diesen Bescheid eingelegte Einspruch wurde zurückgewiesen.

17 Die Klägerin des Ausgangsverfahrens hat Klage beim Finanzgericht Berlin-Brandenburg (Deutschland) erhoben.

18 Im Rahmen ihrer Klage macht die Klägerin des Ausgangsverfahrens geltend, zwischen PD und ihr habe im Dezember 2017 ein Organschaftsverhältnis im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG bestanden. Über ihre wirtschaftliche und organisatorische Eingliederung hinaus sei entgegen der Auffassung des Finanzamts auch eine finanzielle Eingliederung zu bejahen. Infolgedessen seien sämtliche Umsätze und Vorsteuerbeträge für Dezember 2017 nicht PD, sondern der Klägerin des Ausgangsverfahrens zuzurechnen, so dass die für das Jahr 2017 angesetzten Umsätze von PD um die Schätzung für diesen Monat zu mindern seien. Außerdem sei der Verspätungszuschlag zu Unrecht festgesetzt worden, da PD nicht verpflichtet gewesen sei, für diesen Monat eine Umsatzsteuer-Voranmeldung abzugeben.

19 Das Finanzamt ist dagegen der Ansicht, im Dezember 2017 habe keine Organschaft zwischen PD und der Klägerin des Ausgangsverfahrens bestanden, da PD nicht finanziell in Letztere eingegliedert gewesen sei. Nach Abschnitt 2.8 Abs...

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