Minister Sprawiedliwości v Prokurator Krajowy – Pierwszy Zastępca Prokuratora Generalnego and Rzecznik Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2022:6
Docket NumberC-55/20
Date13 January 2022
Celex Number62020CJ0055
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

13. Januar 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Zulässigkeit – Art. 267 AEUV – Begriff ‚nationales Gericht‘ – Disziplinargericht der Anwaltskammer – Disziplinarermittlungen gegen einen Rechtsanwalt – Entscheidung des Disziplinarbeauftragten, mit der ein Disziplinarvergehen verneint und die Untersuchung eingestellt wird – Beschwerde des Justizministers beim Disziplinargericht der Anwaltskammer – Richtlinie 2006/123/EG – Dienstleistungen im Binnenmarkt – Art. 4 Nr. 6 und Art. 10 Abs. 6 – Genehmigungsregelung – Widerruf der Genehmigung – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Unanwendbarkeit“

In der Rechtssache C‑55/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie (Disziplinargericht der Anwaltskammer Warschau, Polen) mit Entscheidung vom 24. Januar 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Januar 2020, in dem Verfahren auf Betreiben des

Minister Sprawiedliwości,

Beteiligte:

Prokurator Krajowy – Pierwszy Zastępca Prokuratora Generalnego,

Rzecznik Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Präsidentin der Zweiten Kammer A. Prechal (Berichterstatterin) in Wahrnehmung der Aufgaben der Präsidentin der Dritten Kammer sowie der Richter J. Passer und F. Biltgen, der Richterin L. S. Rossi und des Richters N. Wahl,

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– des Prokurator Krajowy – Pierwszy Zastępca Prokuratora Generalnego, vertreten durch R. Hernand und B. Święczkowski,

– der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

– der niederländischen Regierung, vertreten durch K. Bulterman und J. M. Hoogveld als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch L. Armati, K. Herrmann, S. L. Kalėda und H. Støvlbæk, dann durch L. Armati, K. Herrmann und S. L. Kalėda als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 17. Juni 2021

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (ABl. 2006, L 376, S. 36) sowie von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Verfahrens auf Betreiben des Minister Sprawiedliwości (Justizminister, Polen) gegen die Entscheidung eines Disziplinarbeauftragten, mit der eine gegen einen Rechtsanwalt eingeleitete Untersuchung eingestellt wurde, nachdem kein diesem zuzurechnendes Disziplinarvergehen festgestellt worden war.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2006/123

3 In den Erwägungsgründen 33 und 39 der Richtlinie 2006/123 heißt es:

„(33) Die von dieser Richtlinie erfassten Dienstleistungen umfassen einen weiten Bereich von Tätigkeiten, die einem ständigen Wandel unterworfen sind, … Die von dieser Richtlinie erfassten Dienstleistungen umfassen ferner Dienstleistungen, die sowohl für Unternehmen als auch für Verbraucher angeboten werden, wie etwa Rechts- oder Steuerberatung, …

(39) Der Begriff der Genehmigungsregelung sollte unter anderem die Verwaltungsverfahren, in denen Genehmigungen, Lizenzen, Zulassungen oder Konzessionen erteilt werden, erfassen sowie die Verpflichtung zur Eintragung bei einer Berufskammer oder in einem Berufsregister, einer Berufsrolle oder einer Datenbank, die Zulassung durch eine Einrichtung oder den Besitz eines Ausweises, der die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Beruf bescheinigt, falls diese Voraussetzung dafür sind, eine Tätigkeit ausüben zu können. …“

4 Art. 1 Abs. 5 dieser Richtlinie bestimmt:

„Diese Richtlinie berührt nicht das Strafrecht der Mitgliedstaaten. Die Mitgliedstaaten dürfen jedoch nicht unter Umgehung der Vorschriften dieser Richtlinie die Dienstleistungsfreiheit dadurch einschränken, dass sie Strafrechtsbestimmungen anwenden, die die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit gezielt regeln oder beeinflussen.“

5 Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:

„Widersprechen Bestimmungen dieser Richtlinie einer Bestimmung eines anderen Gemeinschaftsrechtsaktes, der spezifische Aspekte der Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit in bestimmten Bereichen oder bestimmten Berufen regelt, so hat die Bestimmung des anderen Gemeinschaftsrechtsaktes Vorrang und findet auf die betreffenden Bereiche oder Berufe Anwendung. …“

6 In Art. 4 dieser Richtlinie heißt es:

„Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:

1. ‚Dienstleistung‘ jede von Artikel [57 AEUV] erfasste selbstständige Tätigkeit, die in der Regel gegen Entgelt erbracht wird;

6. ‚Genehmigungsregelung‘ jedes Verfahren, das einen Dienstleistungserbringer oder ‑empfänger verpflichtet, bei einer zuständigen Behörde eine förmliche oder stillschweigende Entscheidung über die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit zu erwirken;

7. ‚Anforderungen‘ alle Auflagen, Verbote, Bedingungen oder Beschränkungen, die in den Rechts- oder Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten festgelegt sind oder sich aus der Rechtsprechung, der Verwaltungspraxis, den Regeln von Berufsverbänden oder den kollektiven Regeln, die von Berufsvereinigungen oder sonstigen Berufsorganisationen in Ausübung ihrer Rechtsautonomie erlassen wurden, ergeben; …

…“

7 Der in Abschnitt 1 („Genehmigungen“) von Kapitel III („Niederlassungsfreiheit der Dienstleistungserbringer“) enthaltene Art. 9 sieht in seinem Abs. 3 vor:

„Dieser Abschnitt gilt nicht für diejenigen Aspekte der Genehmigungsregelungen, die direkt oder indirekt durch andere Gemeinschaftsrechtsakte geregelt sind.“

8 Der im selben Abschnitt enthaltene Art. 10 („Voraussetzungen für die Erteilung der Genehmigung“) der Richtlinie 2006/123 sieht in seinem Abs. 6 vor:

„Abgesehen von dem Fall, in dem eine Genehmigung erteilt wird, sind alle anderen Entscheidungen der zuständigen Behörden, einschließlich der Ablehnung oder des Widerrufs einer Genehmigung, ausführlich zu begründen; sie sind einer Überprüfung durch ein Gericht oder eine andere Rechtsbehelfsinstanz zugänglich.“

9 Abschnitt 2 von Kapitel III der Richtlinie 2006/123, der deren Art. 14 und 15 enthält, betrifft die unzulässigen oder zu prüfenden Anforderungen an die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit.

Richtlinie 98/5/EG

10 Im siebten Erwägungsgrund der Richtlinie 98/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 1998 zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde (ABl. 1998, L 77, S. 36), heißt es:

„Diese Richtlinie sieht entsprechend ihrer Zielsetzung davon ab, rein innerstaatliche Situationen zu regeln, und berührt die nationalen Berufsregeln nur insoweit, als dies notwendig ist, damit sie ihren Zweck tatsächlich erreichen kann. Insbesondere berührt diese Richtlinie nicht die nationalen Regelungen für den Zugang zum Rechtsanwaltsberuf und für die Ausübung dieses Berufs unter der Berufsbezeichnung des Aufnahmestaats.“

11 Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:

„Diese Richtlinie soll die ständige Ausübung des Rechtsanwaltsberufs als Selbständiger oder abhängig Beschäftigter in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Berufsqualifikation erworben wurde, erleichtern.“

Polnisches Recht

Gesetz über die Rechtsanwaltschaft

12 Art. 9 der Ustawa z dnia 26 maja 1982 r. – Prawo o adwokaturze (Gesetz über die Rechtsanwaltschaft) vom 26. Mai 1982 (Dz. U. Nr. 16, Position 124) in geänderter Fassung sieht vor:

„1. Die Organe der Rechtsanwaltskammer sind: die Vollversammlung der Rechtsanwaltskammer, der Oberste Anwaltsrat, das Hohe Disziplinargericht, der Disziplinarbeauftragte und der Hohe Aufsichtsausschuss.

2. Nur Rechtsanwälte können Mitglieder der Organe der Rechtsanwaltskammer sein.“

13 Art. 11 dieses Gesetzes sieht vor:

„1. Die Wahlen zu den Organen der Rechtsanwaltskammer und zu den Organen der Bezirksrechtsanwaltskammern … erfolgen in geheimer Abstimmung ohne Begrenzung der Kandidatenzahl.

2. Die Amtszeit der Organe der Rechtsanwaltskammer und der Organe der Bezirksrechtsanwaltskammern … beträgt vier Jahre; sie sind jedoch verpflichtet, bis zur Konstituierung neu gewählter Organe tätig zu sein.

4. Einzelne Mitglieder der in Abs. 1 genannten Organe können vor Ablauf ihrer Amtszeit von dem Organ, das sie gewählt hat, abberufen werden.

…“

14 Art. 39 dieses Gesetzes bestimmt:

„Organe der Bezirksrechtsanwaltskammer sind:

1) die Versammlung der Bezirksrechtsanwaltskammer, die aus den den Beruf ausübenden Anwälten und den Vertretern der anderen Anwälte besteht;

3) der Disziplinarrat;

3a) der Disziplinarbeauftragte;

…“

15 In Art. 40 dieses Gesetzes heißt es:

„Zu den Aufgaben der Versammlung der Bezirksrechtsanwaltskammer gehören:

2) die Wahl des Vorsitzenden der Rechtsanwaltskammer, des Vorsitzenden des Disziplinarrats, des Disziplinarbeauftragten … sowie der Mitglieder und stellvertretenden Mitglieder des … Disziplinarrats …;

…“

16 In Art. 51 des Gesetzes über die Rechtsanwaltschaft heißt es:

„1. Der Disziplinarrat besteht aus einem Vorsitzenden, einem stellvertretenden Vorsitzenden, Mitgliedern und stellvertretenden Mitgliedern.

2. Der Disziplinarrat entscheidet in vollständiger Besetzung mit drei Richtern.“

17 Art. 58 dieses Gesetzes bestimmt:

„Der Tätigkeitsbereich des Obersten Anwaltsrats umfasst:

13) die Aussetzung des Rechts auf berufliche Betätigung einzelner Mitglieder der Organe der Bezirksrechtsanwaltskammern und der Organe der Rechtsanwaltsvereinigungen, mit Ausnahme der Mitglieder der Disziplinargerichte, wegen Verletzung grundlegender Pflichten und die Beantragung ihres Ausschlusses bei den zuständigen Behörden;

…“

18 Art. 80 dieses Gesetzes bestimmt:

„Rechtsanwälte …, deren...

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