NE v Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld.
Jurisdiction | European Union |
ECLI | ECLI:EU:C:2022:168 |
Docket Number | C-205/20 |
Date | 08 March 2022 |
Celex Number | 62020CJ0205 |
Court | Court of Justice (European Union) |
URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)
8. März 2022 ( *1 )
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Freier Dienstleistungsverkehr – Entsendung von Arbeitnehmern – Richtlinie 2014/67/EU – Art. 20 – Sanktionen – Verhältnismäßigkeit – Unmittelbare Wirkung – Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts
In der Rechtssache C‑205/20
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesverwaltungsgericht Steiermark (Österreich) mit Entscheidung vom 27. April 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Mai 2020, in dem Verfahren
NE
gegen
Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld,
Beteiligte:
Finanzpolizei Team 91,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten E. Regan, S. Rodin, I. Jarukaitis und N. Jääskinen, der Kammerpräsidentin I. Ziemele, der Richter J.‑C. Bonichot, T. von Danwitz, M. Safjan und N. Piçarra, der Richterin L. S. Rossi sowie der Richter A. Kumin und N. Wahl,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– |
der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll und C. Leeb als Bevollmächtigte, |
– |
der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und J. Pavliš als Bevollmächtigte, |
– |
der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten, |
– |
der Europäischen Kommission, vertreten durch B.‑R. Killmann und L. Malferrari als Bevollmächtigte, |
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 23. September 2021
folgendes
Urteil
1 |
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 20 der Richtlinie 2014/67/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Durchsetzung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 über die Verwaltungszusammenarbeit mit Hilfe des Binnenmarkt‑Informationssystems („IMI-Verordnung“) (ABl. 2014, L 159, S. 11). |
2 |
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen NE und der Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (Österreich) über die Geldstrafe, die von dieser Bezirkshauptmannschaft wegen diverser Verstöße gegen österreichische arbeitsrechtliche Vorschriften über NE verhängt wurde. |
Rechtlicher Rahmen
3 |
Art. 20 der Richtlinie 2014/67 sieht vor: „Die Mitgliedstaaten legen Vorschriften über die Sanktionen fest, die bei Verstößen gegen die gemäß dieser Richtlinie erlassenen nationalen Bestimmungen anzuwenden sind, und ergreifen alle erforderlichen Maßnahmen, um die Durchführung und Einhaltung dieser Vorschriften zu gewährleisten. Die vorgesehenen Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein. Die Mitgliedstaaten teilen der Kommission die entsprechenden Bestimmungen spätestens bis zum 18. Juni 2016 mit. Sie teilen etwaige spätere Änderungen der Bestimmungen unverzüglich mit. |
Österreichisches Recht
4 |
§ 52 Abs. 1 und 2 des Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetzes (BGBl. I, 33/2013) in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung bestimmt: „(1) In jedem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes, mit dem ein Straferkenntnis bestätigt wird, ist auszusprechen, dass der Bestrafte einen Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens zu leisten hat. (2) Dieser Beitrag ist für das Beschwerdeverfahren mit 20 % der verhängten Strafe, mindestens jedoch mit zehn Euro zu bemessen; bei Freiheitsstrafen ist zur Berechnung der Kosten ein Tag Freiheitsstrafe gleich 100 Euro anzurechnen. …“ |
5 |
In § 26 Abs. 1 des Lohn- und Sozialdumping-Bekämpfungsgesetzes (BGBl. I, 44/2016) in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: LSD-BG) heißt es: „Wer als Arbeitgeber oder Überlasser im Sinne des § 19 Abs. 1
…
begeht eine Verwaltungsübertretung und ist von der Bezirksverwaltungsbehörde für jeden Arbeitnehmer mit Geldstrafe von 1000 Euro bis 10000 Euro, im Wiederholungsfall von 2000 Euro bis 20000 Euro zu bestrafen.“ |
6 |
§ 27 Abs. 1 LSD-BG sieht vor: „Wer die erforderlichen Unterlagen entgegen den §§ 12 Abs. 1 Z 3 nicht übermittelt, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist von der Bezirksverwaltungsbehörde für jeden Arbeitnehmer mit Geldstrafe von 500 Euro bis 5000 Euro, im Wiederholungsfall von 1000 Euro bis 10000 Euro zu bestrafen. …“ |
7 |
In § 28 LSD-BG heißt es: „Wer als
… begeht eine Verwaltungsübertretung und ist von der Bezirksverwaltungsbehörde für jeden Arbeitnehmer mit einer Geldstrafe von 1000 Euro bis 10000 Euro, im Wiederholungsfall von 2000 Euro bis 20000 Euro, sind mehr als drei Arbeitnehmer betroffen, für jeden Arbeitnehmer mit einer Geldstrafe von 2000 Euro bis 20000 Euro, im Wiederholungsfall von 4000 Euro bis 50000 Euro zu bestrafen.“ |
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
8 |
Die CONVOI s.r.o., eine in der Slowakei ansässige Gesellschaft, entsandte Arbeitnehmer an die Niedec Global Appliance Austria GmbH mit Sitz in Fürstenfeld (Österreich). |
9 |
Auf der Grundlage von Erhebungen im Zuge einer am 24. Januar 2018 durchgeführten Kontrolle wurde von der Bezirksverwaltungsbehörde Hartberg-Fürstenfeld mit Straferkenntnis vom 14. Juni 2018 eine Geldstrafe in Höhe von 54000 Euro über NE als Vertreter von CONVOI wegen der Nichteinhaltung mehrerer im LSD-BG vorgesehener Verpflichtungen verhängt, die u. a. die Erstattung von Meldungen über Entsendungen bei der zuständigen nationalen Behörde und die Bereithaltung von Lohnunterlagen betrafen. |
10 |
NE erhob dagegen Beschwerde an das vorlegende Gericht, das Landesverwaltungsgericht Steiermark (Österreich). |
11 |
Mit Entscheidung vom 9. Oktober 2018 ersuchte dieses Gericht den Gerichtshof um Vorabentscheidung darüber, ob Sanktionen wie die in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung vorgesehenen mit dem Unionsrecht und insbesondere mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar sind. |
12 |
In seinem Beschluss vom 19. Dezember 2019, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (C‑645/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1108), entschied der Gerichtshof, dass Art. 20 der Richtlinie 2014/67 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die für den Fall der Nichteinhaltung arbeitsrechtlicher Verpflichtungen in Bezug auf die Meldung von Arbeitnehmern und die Bereithaltung von Lohnunterlagen die Verhängung hoher Geldstrafen vorsieht,
|
13 |
Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass der nationale Gesetzgeber die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung im Anschluss an diesen Beschluss nicht geändert habe, und stellt sich insbesondere angesichts der Erwägungen im Urteil vom 4. Oktober 2018, Link Logistik N&N (C‑384/17, EU:C:2018:810), sowie in Anbetracht des Bestehens von Divergenzen zwischen den österreichischen Gerichten in Bezug auf die Art und Weise, wie die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs anzuwenden sei, die Frage, ob und gegebenenfalls inwieweit die fragliche Regelung unangewendet bleiben könne. |
14 |
Insbesondere ist das vorlegende Gericht der Auffassung, dass die Folgerungen, die es aus dem genannten Beschluss zu ziehen habe, es dazu veranlassen könnten, entweder die Teile dieser Regelung, die der Verhängung verhältnismäßiger Sanktionen entgegenstünden, unangewendet zu lassen oder die in dieser Regelung vorgesehenen Vorschriften über die Sanktionen zur Gänze unangewendet zu lassen. |
15 |
In diesem Zusammenhang hat das Landesverwaltungsgericht Steiermark beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
|
To continue reading
Request your trial-
VK and Others v BMW Bank GmbH and Others.
...qualsiasi altro procedimento costituzionale [sentenze dell’8 marzo 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (Effetto diretto), C‑205/20, EU:C:2022:168, punto 37 e giurisprudenza ivi citata, nonché del 24 luglio 2023, Lin, C‑107/23 PPU, EU:C:2023:606, punto 226 Orbene, secondo costa......
-
Opinion of Advocate General Campos Sánchez-Bordona delivered on 9 June 2022.
...la même thèse devant la juridiction de renvoi. 11 Arrêt rendu dans l’affaire Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (Effet direct) (C‑205/20, EU:C:2022:168, point 12 Arrêt du 8 mars 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (Effet direct) (C‑205/20, EU:C:2022:168, point 18). 13......
-
Conclusiones del Abogado General Sr. J. Richard de la Tour, presentadas el 16 de febrero de 2023.
...EU:C:2019:1070, points 66 et 67). 62 Voir, notamment, arrêt du 8 mars 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (Effet direct) (C‑205/20, EU:C:2022:168, point 63 Voir arrêt du 9 novembre 2010, B et D (C‑57/09 et C‑101/09, EU:C:2010:661, points 109 et 111). 64 Voir arrêt du 9 novembr......
-
Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato v Comune di Ginosa.
...a C‑249/94, EU:C:1996:329, apartados 18 y 19, y de 8 de marzo de 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (Efecto directo), C‑205/20, EU:C:2022:168, apartado 63 El Tribunal de Justicia ha especificado que una disposición del Derecho de la Unión es, por un lado, incondicional cuando......
-
T.A.C. v Agenția Națională de Integritate (ANI).
...punto 39 e giurisprudenza ivi citata, nonché dell’8 marzo 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (Effetto diretto), C‑205/20, EU:C:2022:168, punto 31 e giurisprudenza ivi 50 Secondo una giurisprudenza costante, al fine di rispettare il principio di proporzionalità, occorre che un......
-
BV NORDIC INFO v Belgische Staat.
...Directiva 2004/38 [véase, en este sentido, la sentencia de 8 de marzo de 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (Efecto directo), C‑205/20, EU:C:2022:168, apartado 77 La exigencia de proporcionalidad obliga concretamente a comprobar que unas medidas como las que son objeto del li......
-
Papier Mettler Italia S.r.l. v Ministero della Transizione Ecologica (già Ministero dell’Ambiente e della Tutela del Territorio e del Mare) and Ministero dello Sviluppo Economico.
...obligation en des termes non équivoques [voir, en ce sens, arrêt du 8 mars 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (Effet direct), C‑205/20, EU:C:2022:168, points 17 et 77 Même si une directive laisse aux États membres une certaine marge d’appréciation lorsqu’ils adoptent les moda......
-
Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato v Comune di Ginosa.
...bis C‑249/94, EU:C:1996:329, Rn. 18 und 19, sowie vom 8. März 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 63 Der Gerichtshof hat klargestellt, dass eine Unionsvorschrift zum einen unbedingt ist, wenn sie eine Verpflichtung normiert,......