YL v Altenrhein Luftfahrt GmbH.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2021:379
Date12 May 2021
Docket NumberC-70/20
Celex Number62020CJ0070
CourtCourt of Justice (European Union)
62020CJ0070

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

12. Mai 2021 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Luftverkehr – Übereinkommen von Montreal – Art. 17 Abs. 1 – Haftung von Luftfahrtunternehmen bei Unfällen – Begriff ‚Unfall‘ – Harte Landung, die im normalen Betriebsbereich des Flugzeugs liegt – Körperverletzung, die ein Fluggast bei einer solchen Landung angeblich erlitten hat – Kein Unfall“

In der Rechtssache C‑70/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Obersten Gerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 30. Januar 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Februar 2020, in dem Verfahren

YL

gegen

Altenrhein Luftfahrt GmbH

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Vilaras, der Richter N. Piçarra (Berichterstatter), D. Šváby und S. Rodin sowie der Richterin K. Jürimäe,

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Altenrhein Luftfahrt GmbH, vertreten durch Rechtsanwältin H. M. Schaflinger,

der finnischen Regierung, vertreten durch H. Leppo als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten zunächst durch W. Mölls und N. Yerrell, dann durch N. Yerrell als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 17 Abs. 1 des am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossenen, von der Europäischen Gemeinschaft am 9. Dezember 1999 unterzeichneten und mit dem Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 (ABl. 2001, L 194, S. 38) in ihrem Namen genehmigten Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr (im Folgenden: Übereinkommen von Montreal), das in Bezug auf die Europäische Union am 28. Juni 2004 in Kraft getreten ist.

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen YL und dem Luftfahrtunternehmen Altenrhein Luftfahrt GmbH wegen einer Schadensersatzklage, die YL wegen der Körperverletzung erhoben hat, die sie bei der Landung eines von diesem Luftfahrtunternehmen durchgeführten Fluges angeblich erlitten hat.

Rechtlicher Rahmen

Völkerrecht

3

Der dritte und der fünfte Absatz der Präambel des Übereinkommens von Montreal sehen vor:

„[Die Vertragsstaaten erkennen die] Bedeutung des Schutzes der Verbraucherinteressen bei der Beförderung im internationalen Luftverkehr und eines angemessenen Schadenersatzes nach dem Grundsatz des vollen Ausgleichs [an];

gemeinsames Handeln der Staaten zur weiteren Harmonisierung und Kodifizierung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr durch ein neues Übereinkommen [ist] das beste Mittel, um einen gerechten Interessenausgleich zu erreichen“.

4

Art. 17 („Tod und Körperverletzung von Reisenden – Beschädigung von Reisegepäck“) Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal lautet:

„Der Luftfrachtführer hat den Schaden zu ersetzen, der dadurch entsteht, dass ein Reisender getötet oder körperlich verletzt wird, jedoch nur, wenn sich der Unfall, durch den der Tod oder die Körperverletzung verursacht wurde, an Bord des Luftfahrzeugs oder beim Ein- oder Aussteigen ereignet hat.“

Unionsrecht

Verordnung (EG) Nr. 2027/97

5

Infolge der Unterzeichnung des Übereinkommens von Montreal wurde die Verordnung (EG) Nr. 2027/97 des Rates vom 9. Oktober 1997 über die Haftung von Luftfahrtunternehmen bei der Beförderung von Fluggästen und deren Gepäck im Luftverkehr (ABl. 1997, L 285, S. 1) durch die Verordnung (EG) Nr. 889/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Mai 2002 (ABl. 2002, L 140, S. 2) geändert (im Folgenden: Verordnung Nr. 2027/97).

6

Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2027/97 sieht vor:

„Die in dieser Verordnung verwendeten Begriffe, die nicht in Absatz 1 definiert sind, entsprechen den im Übereinkommen von Montreal verwendeten Begriffen.“

7

Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung bestimmt:

„Für die Haftung eines Luftfahrtunternehmens der [Union] für Fluggäste und deren Gepäck gelten alle einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens von Montreal.“

Verordnung (EG) Nr. 216/2008

8

Art. 4 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 216/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Februar 2008 zur Festlegung gemeinsamer Vorschriften für die Zivilluftfahrt und zur Errichtung einer Europäischen Agentur für Flugsicherheit, zur Aufhebung der Richtlinie 91/670/EWG des Rates, der Verordnung (EG) Nr. 1592/2002 und der Richtlinie 2004/36/EG (ABl. 2008, L 79, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1108/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Oktober 2009 (ABl. 2009, L 309, S. 51) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 216/2008) bestimmt:

„(1) Luftfahrzeuge, einschließlich eingebauter Erzeugnisse, Teile und Ausrüstungen, die

b)

in einem Mitgliedstaat registriert sind, es sei denn, die behördliche Sicherheitsaufsicht hierfür wurde an ein Drittland delegiert und sie werden nicht von einem [Union]sbetreiber eingesetzt, oder

c)

in einem Drittland registriert sind und von einem Betreiber eingesetzt werden, über den ein Mitgliedstaat die Betriebsaufsicht ausübt, oder von einem Betreiber, der in der [Union] niedergelassen oder ansässig ist, auf Strecken in die, innerhalb der oder aus der [Union] eingesetzt werden, oder

müssen dieser Verordnung entsprechen.“

9

Art. 8 („Flugbetrieb“) Abs. 1 dieser Verordnung sieht vor:

„Der Betrieb von Luftfahrzeugen im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 Buchstaben b und c muss den grundlegenden Anforderungen nach Anhang IV … genügen.“

10

Anhang IV („Grundlegende Anforderungen an den Flugbetrieb gemäß Artikel 8“) Nr. 1.b der Verordnung bestimmt:

„Ein Flug muss so durchgeführt werden, dass die im Flughandbuch oder erforderlichenfalls im Betriebshandbuch spezifizierten Betriebsverfahren für die Vorbereitung und Durchführung des Fluges befolgt werden. …“

11

Anhang IV Nr. 4 („Flugzeugleistung und Betriebsgrenzen“) der Verordnung sieht vor:

„4.a.

Ein Luftfahrzeug muss in Übereinstimmung mit seinen Lufttüchtigkeitsunterlagen und allen damit zusammenhängenden Betriebsverfahren und Betriebsgrenzen, wie sie im genehmigten Flughandbuch bzw. gleichwertigen Unterlagen aufgeführt sind, betrieben werden. Das Flughandbuch bzw. gleichwertige Unterlagen müssen der Besatzung zur Verfügung stehen und für jedes Luftfahrzeug auf dem aktuellen Stand gehalten werden.

4.c.

Ein Flug darf nur dann angetreten oder fortgesetzt werden, wenn bei der geplanten Betriebsmasse und unter Berücksichtigung sämtlicher Faktoren, die die Leistung des Luftfahrzeugs wesentlich beeinflussen, die für das Luftfahrzeug geplante Leistung die Durchführung aller Flugphasen innerhalb der entsprechenden Entfernungen/Gebiete und Hindernisfreiheiten zulässt. Zu den Leistungsfaktoren, die Start, Reiseflug und Landeanflug/Landung wesentlich beeinflussen, zählen insbesondere

i)

Betriebsverfahren,

v)

Größe, Neigung und Zustand des Start-/Landebereichs …

4.c.1.

Diese Faktoren sind direkt als Betriebsparameter oder indirekt durch Toleranzen oder Spannen zu berücksichtigen, die bei der Planung von Leistungsdaten je nach Betriebsart bereitgestellt werden.“

12

Die Verordnung Nr. 216/2008 wurde mit Wirkung vom 11. September 2018 durch die Verordnung (EU) 2018/1139 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2018 zur Festlegung gemeinsamer Vorschriften für die Zivilluftfahrt und zur Errichtung einer Agentur der Europäischen Union für Flugsicherheit sowie zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 2111/2005, (EG) Nr. 1008/2008, (EU) Nr. 996/2010, (EU) Nr. 376/2014 und der Richtlinien 2014/30/EU und 2014/53/EU des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Verordnungen (EG) Nr. 552/2004 und (EG) Nr. 216/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates und der Verordnung (EWG) Nr. 3922/91 des Rates (ABl. 2018, L 212, S. 1) aufgehoben. Die Verordnung 2018/1139 ist jedoch zeitlich nicht auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbar.

Sachverhalt und Vorlagefrage

13

Am 20. März 2014 flog YL mit Altenrhein Luftfahrt von Wien (Österreich) nach St. Gallen/Altenrhein (Schweiz). Sie behauptet, bei der Landung einen Bandscheibenvorfall erlitten zu haben.

14

Bei der Landung zeichnete der Flugschreiber eine vertikale Belastung von 1,8 g auf. Das vorlegende Gericht weist insoweit darauf hin, dass eine solche Landung zwar subjektiv als hart empfunden werden könne, aber auch unter Berücksichtigung einer Messtoleranz aus luftfahrttechnischer Sicht noch im normalen Betriebsbereich des fraglichen Flugzeugs liege. Nach den Vorgaben des Flugzeugherstellers betrage die maximale Belastung des Fahrwerks und der tragenden Teile des fraglichen Flugzeugs nämlich 2 g. Zudem sei aus flugtechnischer Sicht am Flughafen St. Gallen/Altenrhein wegen der alpinen Lage eine harte Landung sicherer als eine zu weiche und habe im vorliegenden Fall kein Pilotenfehler festgestellt werden können.

15

YL erhob beim Handelsgericht Wien (Österreich) Klage gegen Altenrhein Luftfahrt, gerichtet auf Feststellung, dass Altenrhein Luftfahrt nach Art. 17 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal für den ihr angeblich entstandenen Schaden haftet, und auf Verurteilung von Altenrhein Luftfahrt, ihr 68858 Euro zuzüglich Zinsen und Kosten zu zahlen. YL stützt ihre Klage darauf, dass diese Landung als...

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