Union fédérale des consommateurs - Que choisir (UFC - Que choisir) and Consommation, logement et cadre de vie (CLCV) v Premier ministre and Ministre de l’Économie, des Finances et de la Relance.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2023:449
Date08 June 2023
Docket NumberC-407/21
Celex Number62021CJ0407
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

8. Juni 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen – Richtlinie (EU) 2015/2302 – Art. 12 Abs. 2 bis 4 – Rücktritt von einem Pauschalreisevertrag – Unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände – Covid‑19-Pandemie – Erstattung der vom Reisenden für die Pauschalreise getätigten Zahlungen – Erstattung in Geld oder Erstattung durch eine gleichwertige Ersatzleistung in Form eines Guthabens („Gutschein“) – Verpflichtung, dem Reisenden die getätigten Zahlungen innerhalb von spätestens 14 Tagen nach Beendigung des Pauschalreisevertrags zu erstatten – Vorübergehende Befreiung von der Verpflichtung zur Erstattung – Anpassung der Wirkungen einer nach nationalem Recht ergehenden Entscheidung, mit der eine nationale Regelung, die gegen die Verpflichtung zur Erstattung verstößt, für nichtig erklärt wird, in zeitlicher Hinsicht“

In der Rechtssache C‑407/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) mit Entscheidung vom 1. Juli 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 2. Juli 2021, in dem Verfahren

Union fédérale des consommateurs – Que choisir (UFC – Que choisir),

Consommation, logement et cadre de vie (CLCV)

gegen

Premier ministre,

Ministre de l’Économie, des Finances et de la Relance

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), der Richterin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter F. Biltgen, N. Wahl und J. Passer,

Generalanwältin: L. Medina,

Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 1. Juni 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der Union fédérale des consommateurs – Que choisir (UFC – Que choisir) und von Consommation, logement et cadre de vie (CLCV), vertreten durch R. Froger und A. Londoño López, Avocats,

– der französischen Regierung, vertreten durch A. Daniel und A. Ferrand als Bevollmächtigte,

– der belgischen Regierung, vertreten durch S. Baeyens, P. Cottin und T. Willaert als Bevollmächtigte,

– der tschechischen Regierung, vertreten durch S. Šindelková, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

– der dänischen Regierung, vertreten durch V. Pasternak Jørgensen und M. Søndahl Wolff als Bevollmächtigte,

– der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von F. Severi und M. Cherubini, Avvocati dello Stato,

– der slowakischen Regierung, vertreten durch E. V. Drugda, S. Ondrášiková und B. Ricziová als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch B.‑R. Killmann, I. Rubene und C. Valero als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 15. September 2022

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 12 der Richtlinie (EU) 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/314/EWG des Rates (ABl. 2015, L 326, S. 1).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Union fédérale des consommateurs – Que choisir (UFC – Que choisir) und Consommation, logement et cadre de vie (CLCV) einerseits und dem Premier ministre (Premierminister) und dem Ministre de l’Économie, des Finances et de la Relance (Minister für Wirtschaft, Finanzen und Aufschwung) andererseits wegen eines Antrags auf Nichtigerklärung der Ordonnance nº 2020‑315, du 25 mars 2020, relative aux conditions financières de résolution de certains contrats de voyages touristiques et de séjours en cas de circonstances exceptionnelles et inévitables ou de force majeure (Rechtsverordnung Nr. 2020‑315 vom 25. März 2020 über die finanziellen Bestimmungen für die Auflösung bestimmter Verträge über touristische Reisen und Urlaubsaufenthalte im Fall unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände oder höherer Gewalt) (JORF vom 26. März 2020, Text Nr. 35) (im Folgenden: Rechtsverordnung Nr. 2020‑315) wegen Rechtswidrigkeit.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2015/2302

3 In den Erwägungsgründen 5, 31 und 46 der Richtlinie 2015/2302 heißt es:

„(5) … Um einen echten Binnenmarkt für Verbraucher bei Pauschalreisen und verbundenen Reiseleistungen zu schaffen, müssen die Rechte und Pflichten, die sich aus Pauschalreiseverträgen und verbundenen Reiseleistungen ergeben, so harmonisiert werden, dass ein ausgewogenes Verhältnis zwischen einem hohen Verbraucherschutzniveau und der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen dieser Branche gewährleistet ist.

(31) Reisende sollten jederzeit vor Beginn der Pauschalreise gegen Zahlung einer angemessenen und vertretbaren Rücktrittsgebühr – unter Berücksichtigung der erwarteten ersparten Aufwendungen sowie der Einnahmen aus einer anderweitigen Verwendung der Reiseleistungen – von dem Pauschalreisevertrag zurücktreten können. Zudem sollten sie ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Pauschalreisevertrag zurücktreten können, wenn die Durchführung der Reise durch unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände erheblich beeinträchtigt wird. Dies kann zum Beispiel Kriegshandlungen, andere schwerwiegende Beeinträchtigungen der Sicherheit wie Terrorismus, erhebliche Risiken für die menschliche Gesundheit wie einen Ausbruch einer schweren Krankheit am Reiseziel oder Naturkatastrophen wie Hochwasser oder Erdbeben oder Witterungsverhältnisse, die eine sichere Reise an das im Pauschalreisevertrag vereinbarte Reiseziel unmöglich machen, umfassen.

(46) Es sollte bekräftigt werden, dass Reisende nicht auf ihre Rechte aus dieser Richtlinie verzichten dürfen und dass sich Reiseveranstalter oder Unternehmer, die verbundene Reiseleistungen vermitteln, ihren Pflichten nicht dadurch entziehen dürfen, dass sie geltend machen, lediglich als Erbringer von Reiseleistungen, Vermittler oder in anderer Eigenschaft tätig zu sein.“

4 Art. 1 der Richtlinie 2015/2302 bestimmt:

„Der Zweck dieser Richtlinie ist die Angleichung bestimmter Aspekte der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für Verträge über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen zwischen Reisenden und Unternehmern, um so zum ordnungsgemäßen Funktionieren des Binnenmarkts und zu einem hohen und möglichst einheitlichen Verbraucherschutzniveau beizutragen.“

5 Art. 3 der Richtlinie 2015/2302 bestimmt:

„Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

6. ‚Reisender‘ jede Person, die auf der Grundlage dieser Richtlinie einen Vertrag schließen möchte oder die zu einer Reise auf der Grundlage eines im Rahmen dieser Richtlinie geschlossenen Vertrags berechtigt ist;

8. ‚Reiseveranstalter‘ einen Unternehmer, der entweder direkt oder über einen anderen Unternehmer oder gemeinsam mit einem anderen Unternehmer Pauschalreisen zusammenstellt und verkauft oder zum Verkauf anbietet …

12. ‚unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände‘ eine Situation außerhalb der Kontrolle der Partei, die eine solche Situation geltend macht, deren Folgen sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Vorkehrungen getroffen worden wären;

…“

6 Art. 4 („Grad der Harmonisierung“) der Richtlinie 2015/2302 bestimmt:

„Sofern diese Richtlinie nichts anderes bestimmt, erhalten die Mitgliedstaaten weder von den Bestimmungen dieser Richtlinie abweichende nationale Rechtsvorschriften aufrecht noch führen sie solche ein; dies gilt auch für strengere oder weniger strenge Rechtsvorschriften zur Gewährleistung eines anderen Schutzniveaus für den Reisenden.“

7 Art. 12 („Beendigung des Pauschalreisevertrags und Recht zum Widerruf vor Beginn der Pauschalreise“) der Richtlinie 2015/2302 bestimmt:

„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass der Reisende vor Beginn der Pauschalreise jederzeit vom Pauschalreisevertrag zurücktreten kann. Tritt der Reisende gemäß diesem Absatz vom Pauschalreisevertrag zurück, so kann der Reiseveranstalter die Zahlung einer angemessenen und vertretbaren Rücktrittsgebühr verlangen. …

(2) Ungeachtet des Absatzes 1 hat der Reisende das Recht, vor Beginn der Pauschalreise ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Pauschalreisevertrag zurückzutreten, wenn am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen. Im Fall des Rücktritts vom Pauschalreisevertrag gemäß diesem Absatz hat der Reisende Anspruch auf volle Erstattung aller für die Pauschalreise getätigten Zahlungen, jedoch auf keine zusätzliche Entschädigung.

(3) Der Reiseveranstalter kann den Pauschalreisevertrag beenden und dem Reisenden alle für die Pauschalreise getätigten Zahlungen voll erstatten, ohne jedoch eine zusätzliche Entschädigung leisten zu müssen, wenn

b) der Reiseveranstalter aufgrund unvermeidbarer, außergewöhnlicher Umstände an der Erfüllung des Vertrags gehindert ist und er den Reisenden unverzüglich vor Beginn der Pauschalreise von der Beendigung des Vertrags in Kenntnis setzt.

(4) Der Reiseveranstalter leistet alle Erstattungen gemäß den Absätzen 2 und 3 oder zahlt dem Reisenden gemäß Absatz 1 alle von dem Reisenden oder in seinem Namen für die Pauschalreise geleisteten Beträge abzüglich einer angemessenen Rücktrittsgebühr zurück. Der Reisende erhält diese Erstattungen oder Rückzahlungen unverzüglich und in jedem Fall innerhalb von spätestens 14 Tagen nach Beendigung des Pauschalreisevertrags.

…“

8 Art. 23 („Unabdingbarkeit der Richtlinie“) der Richtlinie 2015/2302 bestimmt:

„…

(2) Reisende dürfen nicht auf die Rechte verzichten, die ihnen aus den nationalen Maßnahmen zur Umsetzung dieser Richtlinie zustehen.

(3) Vertragliche Vereinbarungen oder Erklärungen des Reisenden, die einen Verzicht auf die sich aus dieser Richtlinie ergebenden...

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