Wilo Salmson France SAS v Agenţia Naţională de Administrare Fiscală - Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Bucureşti and Agenţia Naţională de Administrare Fiscală - Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Bucureşti - Administraţia Fiscală pentru Contribuabili Nerezidenţi.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2021:870
Docket NumberC-80/20
Date21 October 2021
Celex Number62020CJ0080
Procedure TypeReference for a preliminary ruling
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

21. Oktober 2021(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 167 bis 171 und Art. 178 Buchst. a – Recht auf Vorsteuerabzug – Erstattung der Mehrwertsteuer an nicht im Mitgliedstaat der Erstattung, sondern in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Steuerpflichtige – Besitz einer Rechnung – Richtlinie 2008/9/EG – Ablehnung des Erstattungsantrags – ‚Stornierung‘ der Rechnung durch den Lieferer – Ausstellung einer neuen Rechnung – Neuer Erstattungsantrag – Ablehnung“

In der Rechtssache C‑80/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunalul Bucureşti (Landgericht Bukarest, Rumänien) mit Entscheidung vom 19. Dezember 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Februar 2020, in dem Verfahren

Wilo Salmson France SAS

gegen

Agenţia Naţională de Administrare Fiscală – Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Bucureşti,

Agenţia Naţională de Administrare Fiscală – Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Bucureşti – Administraţia Fiscală pentru Contribuabili Nerezidenţi

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter C. Lycourgos und I. Jarukaitis (Berichterstatter),

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der Wilo Salmson France SAS, vertreten durch C. Apostu, avocată,

– der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane und R. I. Haţieganu als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Armenia und R. Lyal als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 22. April 2021

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 167 und 178 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 (ABl. 2010, L 189, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) sowie von Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2008/9/EG des Rates vom 12. Februar 2008 zur Regelung der Erstattung der Mehrwertsteuer gemäß der Richtlinie 2006/112/EG an nicht im Mitgliedstaat der Erstattung, sondern in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Steuerpflichtige (ABl. 2008, L 44, S. 23).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Wilo Salmson France SAS (im Folgenden: Wilo Salmson) auf der einen und der Agenția Națională de Administrare Fiscală – Direcția Generală Regională a Finanțelor Publice București (Nationale Steuerverwaltungsagentur – Regionale Generaldirektion für öffentliche Finanzen Bukarest, Rumänien) sowie der Agenția Națională de Administrare Fiscală – Direcția Generală Regională a Finanțelor Publice București – Administrația Fiscală pentru Contribuabili Nerezidenți (Nationale Steuerverwaltungsagentur – Regionale Generaldirektion für öffentliche Finanzen Bukarest – Steuerverwaltung für gebietsfremde Steuerpflichtige, Rumänien) (im Folgenden zusammen: Steuerbehörden) auf der anderen Seite wegen einer Entscheidung über die Ablehnung eines von dieser Gesellschaft 2015 gestellten Antrags auf Erstattung der Mehrwertsteuer im Zusammenhang mit dem Erwerb von Gegenständen im Jahr 2012.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Mehrwertsteuerrichtlinie

3 Art. 62 der Mehrwertsteuerrichtlinie definiert für deren Zwecke den „Steuertatbestand“ als den „Tatbestand, durch den die gesetzlichen Voraussetzungen für den Steueranspruch verwirklicht werden“, und den „Steueranspruch“ als den „Anspruch auf Zahlung der Steuer, den der Fiskus kraft Gesetzes gegenüber dem Steuerschuldner von einem bestimmten Zeitpunkt an geltend machen kann, selbst wenn Zahlungsaufschub gewährt werden kann.“

4 Nach Art. 63 dieser Richtlinie treten „Steuertatbestand und Steueranspruch … zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird“.

5 Art. 167 der Richtlinie sieht vor, dass „[d]as Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht“.

6 In Art. 168 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:

„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:

a) die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;

…“

7 Art. 169 dieser Richtlinie bestimmt:

„Über den Vorsteuerabzug nach Artikel 168 hinaus hat der Steuerpflichtige das Recht, die in jenem Artikel genannte Mehrwertsteuer abzuziehen, soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke folgender Umsätze verwendet werden:

a) für seine Umsätze, die sich aus den in Artikel 9 Absatz 1 Unterabsatz 2 genannten Tätigkeiten ergeben, die außerhalb des Mitgliedstaats, in dem diese Steuer geschuldet oder entrichtet wird, bewirkt werden und für die das Recht auf Vorsteuerabzug bestünde, wenn sie in diesem Mitgliedstaat bewirkt worden wären;

…“

8 Art. 170 der Richtlinie sieht vor:

„Jeder Steuerpflichtige, der … nicht in dem Mitgliedstaat ansässig ist, in dem er die Gegenstände und Dienstleistungen erwirbt oder mit der Mehrwertsteuer belastete Gegenstände einführt, hat Anspruch auf Erstattung dieser Mehrwertsteuer, soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke folgender Umsätze verwendet werden:

a) die in Artikel 169 genannten Umsätze;

…“

9 Nach Art. 171 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie erfolgt „[d]ie Erstattung der Mehrwertsteuer an Steuerpflichtige, die nicht in dem Mitgliedstaat, in dem sie die Gegenstände und Dienstleistungen erwerben oder mit der Mehrwertsteuer belastete Gegenstände einführen, sondern in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind, … nach dem in der Richtlinie [2008/9] vorgesehenen Verfahren“.

10 Art. 178 Buchst. a dieser Richtlinie bestimmt:

„Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige folgende Bedingungen erfüllen:

a) für den Vorsteuerabzug nach Artikel 168 Buchstabe a in Bezug auf die Lieferungen von Gegenständen oder das Erbringen von Dienstleistungen muss er eine gemäß Titel XI Kapitel 3 Abschnitte 3 bis 6 ausgestellte Rechnung besitzen[.]“

11 Vor seiner Änderung durch die Richtlinie 2010/45 sah Art. 178 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 vor:

„Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige folgende Bedingungen erfüllen:

a) für den Vorsteuerabzug nach Artikel 168 Buchstabe a in Bezug auf die Lieferungen von Gegenständen und dem Erbringen von Dienstleistungen muss er eine gemäß den Artikeln 220 bis 236 sowie 238, 239 und 240 ausgestellte Rechnung besitzen[.]“

12 Art. 179 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Der Vorsteuerabzug wird vom Steuerpflichtigen global vorgenommen, indem er von dem Steuerbetrag, den er für einen Steuerzeitraum schuldet, den Betrag der Mehrwertsteuer absetzt, für die während des gleichen Steuerzeitraums das Abzugsrecht entstanden ist und gemäß Artikel 178 ausgeübt wird.“

13 Titel X („Vorsteuerabzug“) dieser Richtlinie enthält ein Kapitel 5 über die Berichtigung des Vorsteuerabzugs. In diesem Kapitel 5 bestimmt Art. 185 Abs. 1:

„Die Berichtigung erfolgt insbesondere dann, wenn sich die Faktoren, die bei der Bestimmung des Vorsteuerabzugsbetrags berücksichtigt werden, nach Abgabe der Mehrwertsteuererklärung geändert haben, zum Beispiel bei rückgängig gemachten Käufen oder erlangten Rabatten.“

14 Im selben Kapitel sieht Art. 186 vor, dass „[d]ie Mitgliedstaaten … die Einzelheiten für die Anwendung der Artikel 184 und 185 [festlegen]“.

15 Art. 218 in Kapitel 3 („Erteilung von Rechnungen“) des Titels XI („Pflichten der Steuerpflichtigen und bestimmter nichtsteuerpflichtiger Personen“) der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Für die Zwecke dieser Richtlinie erkennen die Mitgliedstaaten als Rechnung alle auf Papier oder elektronisch vorliegenden Dokumente oder Mitteilungen an, die den Anforderungen dieses Kapitels genügen.“

16 Art. 219 der Richtlinie bestimmt:

„Einer Rechnung gleichgestellt ist jedes Dokument und jede Mitteilung, das/die die ursprüngliche Rechnung ändert und spezifisch und eindeutig auf diese bezogen ist.“

Richtlinie 2008/9

17 Gemäß Art. 1 der Richtlinie 2008/9 regelt diese „die Einzelheiten der Erstattung der Mehrwertsteuer gemäß Artikel 170 der [Mehrwertsteuerrichtlinie] an nicht im Mitgliedstaat der Erstattung ansässige Steuerpflichtige, die die Voraussetzungen von Artikel 3 erfüllen.“

18 Art. 2 dieser Richtlinie enthält folgende Begriffsbestimmungen:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

3. ‚Erstattungszeitraum‘ den Zeitraum nach Artikel 16, auf den im Erstattungsantrag Bezug genommen wird;

5. ‚Antragsteller‘ den nicht im Mitgliedstaat der Erstattung ansässigen Steuerpflichtigen, der den Erstattungsantrag stellt.“

19 Nach ihrem Art. 3 gilt die Richtlinie für jeden nicht im Mitgliedstaat der Erstattung ansässigen Steuerpflichtigen, der die in diesem Artikel aufgeführten Voraussetzungen erfüllt.

20 In Art. 5 der Richtlinie heißt es:

„Jeder Mitgliedstaat erstattet einem nicht im Mitgliedstaat der Erstattung ansässigen Steuerpflichtigen die Mehrwertsteuer, mit der die ihm von anderen Steuerpflichtigen in diesem Mitgliedstaat gelieferten Gegenstände oder erbrachten Dienstleistungen … belastet wurden, sofern die betreffenden Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke der folgenden Umsätze verwendet werden:

a) in Artikel 169 Buchstaben a und b der [Mehrwertsteuerrichtlinie] genannte Umsätze;

Unbeschadet des Artikels 6 wird für die Anwendung dieser Richtlinie der Anspruch auf Vorsteuererstattung nach der [Mehrwertsteuerrichtlinie], wie diese...

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