European Commission v Francisco Carreras Sequeros and Others.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2020:676
Celex Number62019CJ0119
Date08 September 2020
Docket NumberC-119/19
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

8. September 2020(*)

Inhaltsverzeichnis


Rechtlicher Rahmen

Europäische Sozialcharta

Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer

Charta der Grundrechte der Europäischen Union

Richtlinie 2003/88/EG

Statut

Vorgeschichte des Rechtsstreits

Klage vor dem Gericht und angefochtenes Urteil

Anträge der Parteien und Verfahren vor dem Gerichtshof

Zu den Rechtsmitteln

Zum ersten Rechtsmittel- und Anschlussrechtsmittelgrund des Rates: Rechtsfehler in Bezug auf den Umfang der Prüfungsbefugnis des Gerichts

Zum ersten Teil: Rechtsfehler aufgrund fehlender Umdeutung des Streitgegenstands im ersten Rechtszug

– Vorbringen der Parteien

– Würdigung durch den Gerichtshof

Zum zweiten Teil: Rechtsfehler in Bezug auf die Zulässigkeit und den Umfang der im ersten Rechtszug erhobenen Einrede der Rechtswidrigkeit

– Vorbringen der Parteien

– Würdigung durch den Gerichtshof

Zum ersten Rechtsmittelgrund der Kommission sowie zum zweiten Rechtsmittel- und Anschlussrechtsmittelgrund des Rates: Rechtsfehler bei der Auslegung von Art. 31 Abs. 2 der Charta und der Richtlinie 2003/88 sowie bei der Feststellung einer Beeinträchtigung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub

Zu den ersten beiden Rügen: Rechtsfehler in Bezug auf die Möglichkeit, sich gegenüber den Unionsorganen auf Richtlinien zu berufen, und falsche Definition der Tragweite des in Art. 31 Abs. 2 der Charta im Licht der Richtlinie 2003/88 vorgesehenen Rechts auf bezahlten Jahresurlaub

– Vorbringen der Parteien

– Würdigung durch den Gerichtshof

Zur dritten Rüge: Rechtsfehler in Bezug auf Natur und Zielsetzung des in Art. 31 Abs. 2 der Charta verankerten Rechts

– Vorbringen der Parteien

– Würdigung durch den Gerichtshof

Zur Klage vor dem Gericht

Zum ersten Klagegrund: Verstoß gegen die besondere Natur und die Zielsetzung des Rechts auf Jahresurlaub

Zum zweiten Klagegrund: Verstoß gegen den allgemeinen Grundsatz der Gleichbehandlung

Zum dritten Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes

Zum vierten Klagegrund: Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens

Kosten


„Rechtsmittel – Öffentlicher Dienst – Statut der Beamten der Europäischen Union – Reform vom 1. Januar 2014 – Anhang X Art. 6 – Beamte und Vertragsbedienstete, die in einem Drittland Dienst tun – Neue Bestimmungen über die Gewährung von bezahlten Jahresurlaubstagen – Einrede der Rechtswidrigkeit – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 31 Abs. 2 – Richtlinie 2003/88/EG – Grundrecht auf bezahlten Jahresurlaub“

In den verbundenen Rechtssachen C‑119/19 P und C‑126/19 P

betreffend zwei Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 14. Februar 2019 und am 15. Februar 2019,

Europäische Kommission, vertreten durch T. Bohr, G. Gattinara und L. Vernier als Bevollmächtigte,

Rechtsmittelführerin,

andere Parteien des Verfahrens:

Francisco Carreras Sequeros, wohnhaft in Addis Abeba (Äthiopien),

Mariola de las Heras Ojeda, wohnhaft in Guatemala-Stadt (Guatemala),

Olivier Maes, wohnhaft in Skopje (Nordmazedonien),

Gabrio Marinozzi, wohnhaft in Santo Domingo (Dominikanische Republik),

Giacomo Miserocchi, wohnhaft in Islamabad (Pakistan),

Marc Thieme Groen, wohnhaft in Kampala (Uganda),

Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte S. Orlandi und T. Martin,

Kläger im ersten Rechtszug,

Europäisches Parlament, vertreten durch O. Caisou-Rousseau, J. Steele und E. Taneva als Bevollmächtigte,

Rat der Europäischen Union, vertreten durch M. Bauer und R. Meyer als Bevollmächtigte,

Streithelfer im ersten Rechtszug (C‑119/19 P),

und

Rat der Europäischen Union, vertreten durch M. Bauer und R. Meyer als Bevollmächtigte,

Rechtsmittelführer,

andere Parteien des Verfahrens:

Francisco Carreras Sequeros, wohnhaft in Addis Abeba,

Mariola de las Heras Ojeda, wohnhaft in Guatemala-Stadt,

Olivier Maes, wohnhaft in Skopje,

Gabrio Marinozzi, wohnhaft in Santo Domingo,

Giacomo Miserocchi, wohnhaft in Islamabad,

Marc Thieme Groen, wohnhaft in Kampala,

Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte S. Orlandi und T. Martin,

Kläger im ersten Rechtszug,

Europäische Kommission, vertreten durch G. Gattinara, T. Bohr und L. Vernier als Bevollmächtigte,

Beklagte im ersten Rechtszug,

Europäisches Parlament, vertreten durch O. Caisou-Rousseau, J. Steele und E. Taneva als Bevollmächtigte,

Streithelfer im ersten Rechtszug (C‑126/19 P),

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot und A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal, des Kammerpräsidenten S. Rodin, der Kammerpräsidentin L. S. Rossi (Berichterstatterin), der Richter E. Juhász, M. Ilešič, J. Malenovský und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter A. Kumin, N. Jääskinen und N. Wahl,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: V. Giacobbo-Peyronnel, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. Februar 2020,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 26. März 2020

folgendes

Urteil

1 Mit ihren Rechtsmitteln begehren die Europäische Kommission und der Rat der Europäischen Union die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 4. Dezember 2018, Carreras Sequeros u. a./Kommission (T‑518/16, im Folgenden: angefochtenes Urteil, EU:T:2018:873), mit dem das Gericht die Entscheidungen der Kommission über die Festsetzung der Zahl der Tage des Jahresurlaubs der Kläger im ersten Rechtszug, d. h. von Herrn Francisco Carreras Sequeros, Frau Mariola de las Heras Ojeda, Herrn Olivier Maes, Herrn Gabrio Marinozzi, Herrn Giacomo Miserocchi und Herrn Marc Thieme Groen (im Folgenden gemeinsam: Carreras Sequeros u. a.), die alle Beamte oder Vertragsbedienstete der Kommission sind, für das Jahr 2014 (im Folgenden: streitige Entscheidungen) aufgehoben hat.

Rechtlicher Rahmen

Europäische Sozialcharta

2 Die am 18. Oktober 1961 in Turin im Rahmen des Europarats unterzeichnete und am 3. Mai 1996 in Straßburg revidierte Europäische Sozialcharta trat im Jahr 1999 in Kraft. Alle Mitgliedstaaten sind Vertragsparteien dieses Übereinkommens, dem sie in seiner ursprünglichen Fassung, in seiner revidierten Fassung oder in beiden Fassungen beigetreten sind.

3 In Art. 2 der Europäischen Sozialcharta in ihrer revidierten Fassung heißt es:

„Um die wirksame Ausübung des Rechts auf gerechte Arbeitsbedingungen zu gewährleisten, verpflichten sich die Vertragsparteien: … die Gewährung eines bezahlten Jahresurlaubs von mindestens vier Wochen sicherzustellen …“

Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer

4 Nr. 8 der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer, die auf der Tagung des Europäischen Rates vom 9. Dezember 1989 in Straßburg angenommen wurde, bestimmt:

„Jeder Arbeitnehmer der Europäischen Gemeinschaft hat Anspruch auf die wöchentliche Ruhezeit und auf einen bezahlten Jahresurlaub, deren Dauer gemäß den einzelstaatlichen Gepflogenheiten auf dem Wege des Fortschritts in den einzelnen Staaten einander anzunähern ist.“

Charta der Grundrechte der Europäischen Union

5 Art. 31 („Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen“) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) bestimmt:

„(1) Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen.

(2) Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub.“

Richtlinie 2003/88/EG

6 In Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9) heißt es:

„(1) Diese Richtlinie enthält Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung.

(2) Gegenstand dieser Richtlinie sind

a) … der Mindestjahresurlaub …

…“

7 Art. 7 („Jahresurlaub“) der Richtlinie 2003/88 lautet:

„(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.

(2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.“

8 Art. 14 („Spezifischere Gemeinschaftsvorschriften“) dieser Richtlinie sieht vor:

„Die Bestimmungen dieser Richtlinie gelten nicht, soweit andere Gemeinschaftsinstrumente spezifischere Vorschriften über die Arbeitszeitgestaltung für bestimmte Beschäftigungen oder berufliche Tätigkeiten enthalten.“

9 Art. 23 („Niveau des Arbeitnehmerschutzes“) der Richtlinie lautet:

„Unbeschadet des Rechts der Mitgliedstaaten, je nach der Entwicklung der Lage im Bereich der Arbeitszeit unterschiedliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften sowie Vertragsvorschriften zu entwickeln, sofern die Mindestvorschriften dieser Richtlinie eingehalten werden, stellt die Durchführung dieser Richtlinie keine wirksame Rechtfertigung für eine Zurücknahme des allgemeinen Arbeitnehmerschutzes dar.“

Statut

10 Das Statut der Beamten der Europäischen Union (im Folgenden: Statut) ist Gegenstand der Verordnung (EWG, Euratom, EGKS) Nr. 259/68 des Rates vom 29. Februar 1968 zur Festlegung des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften und der Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten dieser Gemeinschaften sowie zur Einführung von Sondermaßnahmen, die vorübergehend auf die Beamten der Kommission anwendbar sind (ABl. 1968, L 56, S. 1), in der durch die Verordnung (EU, Euratom) Nr. 1023/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 (ABl. 2013, L...

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