European Commission v Hungary.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2021:202
Docket NumberC-596/19
Celex Number62019CJ0596
CourtCourt of Justice (European Union)
Date16 March 2021

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

16. März 2021(*)

„Rechtsmittel – Art. 107 Abs. 1 AEUV – Staatliche Beihilfen – Ungarische Steuer auf Umsätze aus der Verbreitung von Werbung – Anhaltspunkte für die Bestimmung des Referenzsystems – Progression der Steuersätze – Übergangsregelung zur teilweisen Abzugsfähigkeit vorgetragener Verluste – Vorliegen eines selektiven Vorteils – Beweislast“

In der Rechtssache C-596/19 P

betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 6. August 2019,

Europäische Kommission, vertreten durch V. Bottka, P.-J. Loewenthal und K. Herrmann als Bevollmächtigte,

Klägerin,

andere Parteien des Verfahrens:

Ungarn, vertreten durch M. Z. Fehér und G. Koós als Bevollmächtigte,

Kläger im ersten Rechtszug,

Republik Polen, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

Streithelferin im ersten Rechtszug,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.–C. Bonichot (Berichterstatter), A. Arabadjiev, E. Regan, A. Kumin und N. Wahl, der Richter M. Safjan, D. Šváby, S. Rodin und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter C. Lycourgos, P. G. Xuereb und N. Jääskinen,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: R. Șereș, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 1. September 2020,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 15. Oktober 2020

folgendes

Urteil

1 Mit ihrem Rechtsmittel begehrt die Europäische Kommission die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 27. Juni 2019, Ungarn/Kommission (T-20/17, im Folgenden: angefochtenes Urteil, EU:T:2019:448), mit dem das Gericht den Beschluss (EU) 2017/329 der Kommission vom 4. November 2016 über die Maßnahme SA.39235 (2015/C) (ex 2015/NN) Ungarns bezüglich der Besteuerung von Werbeumsätzen (ABl. 2017, L 49, S. 36) (im Folgenden: streitiger Beschluss) für nichtig erklärt hat.

Vorgeschichte des Rechtsstreits

2 Das Gericht hat die Vorgeschichte des Rechtsstreits in den Rn. 1 bis 32 des angefochtenen Urteils dargestellt. Sie lässt sich wie folgt zusammenfassen.

3 Am 11. Juni 2014 erließ Ungarn das Gesetz Nr. XXII von 2014 über die Werbesteuer (im Folgenden: Werbesteuergesetz). Mit dem Gesetz, das am 15. August 2014 in Kraft trat, wurde eine neue Sondersteuer mit progressiv gestaffelten Steuersätzen auf Einkünfte eingeführt, die in Ungarn mit der Verbreitung von Werbung erzielt werden (im Folgenden: fragliche steuerliche Maßnahme). Während der von der Kommission durchgeführten beihilferechtlichen Prüfung des Werbesteuergesetzes erklärten die ungarischen Behörden, Ziel dieser Steuer sei es, den Grundsatz der Verteilung öffentlicher Lasten zu fördern.

4 Nach diesem Gesetz unterliegt der fraglichen steuerlichen Maßnahme, wer Werbung verbreitet. Steuerpflichtig sind somit Wirtschaftsteilnehmer, die Werbung verbreiten, wie etwa die Herausgeber von Printmedien und audiovisuellen Medien oder die Anzeigendienste, jedoch weder die Inserenten (also diejenigen, die die Werbeanzeigen in Auftrag geben) noch die Werbeagenturen, die als Vermittler zwischen den Inserenten und den Werbungsverbreitern fungieren. Bemessungsgrundlage der fraglichen steuerlichen Maßnahme ist der mit der Verbreitung von Werbung in einem Geschäftsjahr erzielte Nettoumsatz. Sie wird neben bestehenden Unternehmensteuern, insbesondere der Körperschaftsteuer, erhoben. Ihr räumlicher Geltungsbereich ist Ungarn.

5 Der Steuertarif der fraglichen steuerlichen Maßnahme wurde wie folgt festgelegt:

– 0 % für den Teil der Bemessungsgrundlage unter 0,5 Mrd. ungarische Forint (HUF) (rund 1 400 000 Euro);

– 1 % für den Teil der Bemessungsgrundlage zwischen 0,5 und 5 Mrd. HUF (rund 14 Mio. Euro);

– 10 % für den Teil der Bemessungsgrundlage zwischen 5 und 10 Mrd. HUF (rund 28 Mio. Euro);

– 20 % für den Teil der Bemessungsgrundlage zwischen 10 und 1 Mrd. HUF (rund 42 Mio. Euro);

– 30 % für den Teil der Bemessungsgrundlage zwischen 15 und 20 Mrd. HUF (rund 56 Mio. Euro);

– 40 % für den über dem letztgenannten Betrag liegenden Teil der Bemessungsgrundlage; dieser Steuersatz wurde ab dem 1. Januar 2015 auf 50 % angehoben.

6 Das Werbesteuergesetz sah ferner vor, dass Steuerpflichtige, deren Gewinn im Geschäftsjahr 2013 vor Steuern gleich null oder negativ war, vorgetragene Verluste früherer Geschäftsjahre in Höhe von 50 % von ihrer Bemessungsgrundlage für 2014 abziehen konnten (im Folgenden: Mechanismus der teilweisen Abzugsfähigkeit vorgetragener Verluste).

7 Mit Beschluss vom 12. März 2015 leitete die Kommission das förmliche Prüfverfahren nach Art. 108 Abs. 2 AEUV ein, wobei sie den progressiven Charakter der fraglichen steuerlichen Maßnahme und den Mechanismus der teilweisen Abzugsfähigkeit vorgetragener Verluste als staatliche Beihilfen betrachtete. In diesem Beschluss vertrat die Kommission die Auffassung, durch die Progression der Steuersätze werde zwischen Unternehmen mit hohen Werbeeinnahmen (d. h. großen Unternehmen) und Unternehmen mit geringen Werbeeinnahmen (d. h. kleinen Unternehmen) unterschieden. Die fragliche steuerliche Maßnahme verschaffe Letzteren einen selektiven Vorteil. Auch durch den Mechanismus der teilweisen Abzugsfähigkeit vorgetragener Verluste werde ein selektiver Vorteil und somit eine staatliche Beihilfe gewährt.

8 Mit diesem Beschluss gab die Kommission den ungarischen Behörden aufgrund von Art. 11 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 [AEUV] (ABl. 1999, L 83, S. 1) auf, die fragliche steuerliche Maßnahme auszusetzen.

9 Daraufhin änderte Ungarn diese Maßnahme durch das am 4. Juni 2015 erlassene Gesetz Nr. LXII von 2015 (im Folgenden: Gesetz von 2015). Der aus sechs Steuersätzen von 0 % bis 50 % bestehende progressive Tarif der fraglichen steuerlichen Maßnahme wurde durch folgenden, aus zwei Steuersätzen bestehenden Tarif ersetzt:

– 0 % für den Teil der Bemessungsgrundlage unter 100 Mio. HUF (rund 280 000 Euro) und

– 5,3 % für den Teil der Bemessungsgrundlage ab 100 Mio. HUF.

10 Am 4. November 2016 schloss die Kommission das förmliche Prüfverfahren mit dem Erlass des streitigen Beschlusses ab.

11 In Art. 1 dieses Beschlusses stellte die Kommission fest, dass der progressive Charakter der fraglichen steuerlichen Maßnahme, auch in der durch das Gesetz von 2015 geänderten Fassung, sowie der Mechanismus der teilweisen Abzugsfähigkeit vorgetragener Verluste eine staatliche Beihilfe darstellten. Diese Beihilfe sei unter Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 AEUV rechtswidrig gewährt worden und zudem im Hinblick auf Art. 107 Abs. 1 AEUV mit dem Binnenmarkt unvereinbar. In Art. 4 des streitigen Beschlusses gab die Kommission Ungarn auf, die für unvereinbar mit dem Binnenmarkt erklärten Beihilfen von den Empfängern zurückzufordern.

12 Zu diesem Zweck mussten die ungarischen Behörden von Unternehmen mit Werbeumsätzen für den Zeitraum zwischen dem Inkrafttreten des Werbesteuergesetzes und dem Datum der Aufhebung der fraglichen steuerlichen Maßnahme bzw. ihres Ersatzes durch eine mit dem Beihilferecht der Union vereinbare Regelung die Differenz zwischen folgenden Beträgen zurückfordern: dem Steuerbetrag, den die Unternehmen bei Anwendung des Referenzsystems in Form einer Steuerregelung mit einem einheitlichen Steuersatz von 5,3 % (es sei denn, die ungarischen Behörden legen einen anderen Satz fest) hätten zahlen müssen, und dem Steuerbetrag, den die Unternehmen zahlen mussten oder bereits gezahlt hatten. Bei einer positiven Differenz zwischen diesen beiden Beträgen musste der entsprechende Betrag zuzüglich Zinsen ab Fälligkeit der Steuer zurückgefordert werden.

13 Die Kommission hielt eine Rückforderung hingegen nicht für erforderlich, wenn Ungarn die fragliche steuerliche Maßnahme rückwirkend zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens aufhebt. Für die Zukunft, z. B. ab 2017, könnte Ungarn eine Steuerregelung ohne Progression einführen, bei der nicht zwischen den besteuerten Wirtschaftsakteuren unterschieden würde.

14 Die Kommission begründete die Einstufung der fraglichen steuerlichen Maßnahme als „staatliche Beihilfe“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV im Kern wie folgt.

15 In Bezug auf die Zurechenbarkeit der fraglichen steuerlichen Maßnahme zum Staat und auf ihre Finanzierung durch staatliche Mittel führte die Kommission aus, mit Erlass des Werbesteuergesetzes habe Ungarn auf Einnahmen verzichtet, die es andernfalls von Unternehmen mit einem geringen Umsatz aus Werbeeinnahmen (d. h. von kleinen Unternehmen) hätte erheben müssen, wenn sie derselben Besteuerung unterlegen hätten wie Unternehmen mit einem höheren Umsatz aus Werbeeinnahmen (d. h. größere Unternehmen).

16 Zum Vorliegen eines Vorteils wies die Kommission darauf hin, dass Maßnahmen, welche die von den Unternehmen normalerweise zu tragenden Belastungen verminderten, genauso wie positive Leistungen einen Vorteil verschafften. Im vorliegenden Fall seien Unternehmen mit niedrigem Umsatz dadurch, dass sie einem wesentlich niedrigeren Durchschnittsteuersatz unterlägen, im Vergleich zu Unternehmen mit hohem Umsatz weniger belastet worden, was den kleineren Unternehmen gegenüber größeren Unternehmen einen Vorteil verschafft habe.

17 Der Mechanismus der teilweisen Abzugsfähigkeit vorgetragener Verluste stelle ebenfalls einen Vorteil dar, weil dadurch die Steuerbelastung von Unternehmen, die 2013 keinen Gewinn erwirtschaftet hätten und daher über vorgetragene Verluste verfügten, im Vergleich zu Unternehmen, die von diesem Mechanismus keinen Gebrauch machen könnten, verringert werde.

18 Bei der Prüfung der Selektivität der fraglichen steuerlichen Maßnahme stellte die Kommission zunächst fest, dass das Referenzsystem, von dem auszugehen sei, in einer speziellen Steuer auf Umsätze bestehe, die mit der...

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