Opinion of Advocate General Kokott delivered on 25 May 2023.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2023:431
Date25 May 2023
Celex Number62021CC0750
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 25. Mai 2023(1)

Rechtssachen C750/21 P und C256/22 P

Pilatus Bank plc

gegen

Europäische Zentralbank (EZB)

„Wirtschafts- und Währungspolitik – Einheitlicher Aufsichtsmechanismus – Verordnung (EU) Nr. 1024/2013 – Der EZB übertragene besondere Aufsichtsaufgaben – Beschluss über den Entzug der Zulassung zur Aufnahme der Tätigkeit eines Kreditinstituts – Anklageerhebung gegen den Hauptanteilseigner in einem Drittland – Kriterium des Leumunds – Wahrnehmung des Leumunds durch den Markt – Blocking-Verordnung Nr. 2271/96 – Wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte durch einen Rechtsbeistand – Zurechnung vorbereitender Handlungen nationaler Behörden an die EZB – Effektiver Rechtsschutz – Art. 41 und 47 der Charta“






Inhaltsverzeichnis


I. Einleitung

II. Rechtlicher Rahmen

A. Verordnung (EU) Nr. 1024/2013

B. Verordnung (EU) Nr. 575/2013

C. Verordnung (EU) Nr. 468/2014

D. Richtlinie 2013/36/EU

E. Gemeinsame Leitlinien der Europäischen Aufsichtsbehörden für Banken, Versicherer und den Wertpapierhandel (EBA, EIOPA und ESMA) zur aufsichtsrechtlichen Beurteilung des Erwerbs und der Erhöhung von qualifizierten Beteiligungen im Finanzsektor

III. Vorgeschichte des Rechtsstreits

A. Sachverhalt

B. Angefochtener Beschluss (Rechtssache C750/21 P)

C. Angefochtenes Urteil (Rechtssache C256/22 P)

IV. Verfahren vor dem Gerichtshof und Anträge der Parteien

V. Würdigung

A. Wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte im mehrphasigen Verwaltungsverfahren zum Entzug der Zulassung

1. Vorbemerkungen

2. Zurechnung von Verstößen gegen die Verteidigungsrechte und effektiver Rechtsschutz im mehrphasigen Verwaltungsverfahren

a) Ausschließliche Zuständigkeit des Gerichtshofs

b) Zurechnung vorbereitender nationaler Handlungen an die EZB

c) Rechtsfehler im angefochtenen Urteil und wirksame Rechtsverteidigung durch den Rechtsbeistand der Bank

3. Zwischenergebnis

a) Rechtssache C256/22 P

b) Rechtssache C750/21 P

B. Reichweite der Aufsichtsbefugnisse der EZB

1. Erster Rechtsmittelgrund in der Rechtssache C256/22 P: Verstoß gegen Art. 14 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1024/2013

2. Zweiter Rechtsmittelgrund in der Rechtssache C256/22 P: Verkennung des Leumundsbegriffs nach Art. 23 der Verordnung Nr. 1024/2013

a) Vorbringen der Rechtsmittelführerin

b) Zurückweisung durch das Gericht

c) Leumundsbegriff in Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie 2013/36

d) Verfahrens- und beweisrechtliche Anforderungen für den Nachweis fehlenden Leumunds und des daraus resultierenden Risikos

e) Bedeutung der Blocking-Verordnung Nr. 2271/96

3. Dritter Rechtsmittelgrund in der Rechtssache C256/22 P: Rechtsfehler des Gerichts, insbesondere Unverhältnismäßigkeit des Entzugs der Zulassung

4. Erster Rechtsmittelgrund in der Rechtssache C750/21 P: sonstige Rügen

5. Zwischenergebnis und Kosten

a) Rechtssache C750/21 P

b) Rechtssache C256/22 P

VI. Ergebnis

A. Rechtssache C750/21 P

B. Rechtssache C256/22 P


I. Einleitung

1. Die beiden vorliegenden Rechtssachen sind zwar nicht förmlich miteinander verbunden, betreffen aber dieselben Parteien und dasselbe Verwaltungsverfahren. Dieses hat dazu geführt, dass die Europäische Zentralbank (EZB) der Rechtsmittelführerin Pilatus Bank plc die Zulassung zur Tätigkeit eines Kreditinstituts (im Folgenden: Zulassung) entzogen hat.

2. Zudem werfen diese Rechtssachen dieselben Grundsatzfragen auf. Zum einen muss geklärt werden, ob die EZB kraft ihrer übergeordneten Aufsichts- und Entscheidungsbefugnisse für die Wahrung der Verteidigungsrechte des Kreditinstituts einzustehen hat, indem ihr schwerwiegende Verfahrensmängel im nationalen Teil des (mehrphasigen) Verwaltungsverfahrens zugerechnet werden. Zum anderen ist in diesem Zusammenhang zu prüfen, ob ein Kreditinstitut, das von der zuständigen nationalen Behörde unter besondere Aufsicht bzw. Verwaltung gestellt wird, diese Verteidigungsrechte und sein Klagerecht in Bezug auf den (drohenden) Entzug dieser Zulassung in vollem Umfang über den von seinem Vorstand bestellten Rechtsbeistand ausüben kann.

3. Im Übrigen geht es in den beiden Rechtssachen generell um die Reichweite der Aufsichtsbefugnisse der EZB nach den Regeln des einheitlichen Aufsichtsmechanismus.(2) Dabei ist zu untersuchen, ob und inwieweit der EZB die vorbereitenden Handlungen der zuständigen nationalen Behörden zuzurechnen sind, sie diese auf ihre Rechtmäßigkeit hin überprüfen muss und diese gemeinsam mit dem verfahrensabschließenden Beschluss der EZB vor den Unionsgerichten justiziabel sind.

4. In der Rechtssache C‑256/22 P stellt sich die zusätzliche Grundsatzfrage, unter welchen Voraussetzungen der Entzug der Zulassung zur Aufnahme der Tätigkeit eines Kreditinstituts aufgrund des fehlenden oder weggefallenen „Leumunds“ des Hauptanteilseigners eines Kreditinstituts möglich ist. Die Auslegung dieses unbestimmten Beurteilungskriteriums ist erstmals Gegenstand der Rechtsprechung des Gerichtshofs.

II. Rechtlicher Rahmen

A. Verordnung (EU) Nr. 1024/2013

5. Die Verordnung Nr. 1024/2013 führt in den Erwägungsgründen 16, 20 und 21 Folgendes aus:

„(16) Die Sicherheit und Solidität großer Kreditinstitute sind für die Gewährleistung der Stabilität des Finanzsystems von entscheidender Bedeutung. In der jüngsten Vergangenheit hat sich jedoch gezeigt, dass auch von kleineren Kreditinstituten Risiken für die Finanzmarktstabilität ausgehen können. Die EZB sollte daher in Bezug auf alle in teilnehmenden Mitgliedstaaten zugelassenen Kreditinstitute und alle Zweigstellen in teilnehmenden Mitgliedstaaten Aufsichtsaufgaben ausüben können.

(20) Die Zulassung von Kreditinstituten vor der Aufnahme der Geschäftstätigkeit ist ein wichtiges aufsichtsrechtliches Mittel, um sicherzustellen, dass diese Tätigkeiten nur von Unternehmen ausgeübt werden, die über eine solide wirtschaftliche Grundlage, eine geeignete Organisation für den Umgang mit den besonderen Risiken des Einlagen- und Kreditgeschäfts sowie über geeignete Geschäftsleiter verfügen. Die EZB sollte daher vorbehaltlich spezieller Regelungen, die der Rolle der nationalen Aufsichtsbehörden Rechnung tragen, mit der Zulassung von Kreditinstituten beauftragt werden, die in einem teilnehmenden Mitgliedstaat gegründet werden sollen, und diese Zulassungen auch entziehen können.

(21) Neben den im Unionsrecht vorgesehenen Bedingungen für die Zulassung von Kreditinstituten und den Entzug dieser Zulassungen können die Mitgliedstaaten derzeit weitere Bedingungen für die Zulassung von Kreditinstituten und Gründe für den Entzug der Zulassung festlegen. Die EZB sollte daher ihre Aufgaben in Bezug auf die Zulassung von Kreditinstituten und den Entzug dieser Zulassung bei Nichteinhaltung nationaler Rechtsvorschriften auf der Grundlage eines Vorschlags der betreffenden nationalen zuständigen Behörde, die die Einhaltung der einschlägigen, im nationalen Recht festgelegten Bedingungen prüft, wahrnehmen.“

6. Art. 1 der Verordnung Nr. 1024/2013 bestimmt unter der Überschrift „Gegenstand und Geltungsbereich“:

„Durch diese Verordnung werden der EZB mit voller Rücksichtnahme auf und unter Wahrung der Sorgfaltspflicht für die Einheit und Integrität des Binnenmarkts auf der Grundlage der Gleichbehandlung der Kreditinstitute mit dem Ziel, Aufsichtsarbitrage zu verhindern, besondere Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute übertragen, um einen Beitrag zur Sicherheit und Solidität von Kreditinstituten sowie zur Stabilität des Finanzsystems in der Union und jedem einzelnen Mitgliedstaat zu leisten.

Die in Artikel 2 Absatz 5 der Richtlinie 2013/36/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über den Zugang zur Tätigkeit von Kreditinstituten und die Beaufsichtigung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen[(3)] genannten Institutionen sind von den der EZB gemäß Artikel 4 dieser Verordnung übertragenen Aufsichtsaufgaben ausgenommen. Der Umfang der Aufsichtsaufgaben der EZB beschränkt sich auf die Beaufsichtigung von Kreditinstituten gemäß dieser Verordnung. Durch diese Verordnung werden der EZB keine weiteren Aufsichtsaufgaben, wie beispielsweise Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über zentrale Gegenparteien, übertragen.

Bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben gemäß dieser Verordnung berücksichtigt die EZB unbeschadet des Ziels, die Sicherheit und Solidität von Kreditinstituten zu gewährleisten, in vollem Umfang die verschiedenen Arten, Geschäftsmodelle und die Größe der Kreditinstitute.

Die Maßnahmen, Vorschläge oder Strategien der EZB dürfen in keiner Weise, weder direkt noch indirekt, einen Mitgliedstaat oder eine Gruppe von Mitgliedstaaten als Ort für die Bereitstellung von Leistungen von Bank- oder anderen Finanzdienstleistungen in jeglicher Währung benachteiligen.

Diese Verordnung berührt nicht die Verantwortlichkeiten und dazu gehörenden Befugnisse der zuständigen Behörden der teilnehmenden Mitgliedstaaten zur Wahrnehmung von Aufsichtsaufgaben, die der EZB nicht durch diese Verordnung übertragen wurden.

Diese Verordnung berührt auch nicht die Verantwortlichkeiten und dazu gehörenden Befugnisse der zuständigen oder benannten Behörden der teilnehmenden Mitgliedstaaten zur Anwendung von nicht durch einschlägige Rechtsakte der Union vorgesehenen makroprudenziellen Instrumenten.“

7. Art. 2 Ziff. 2, 3 und 9 der Verordnung Nr. 1024/2013 sieht folgende Begriffsbestimmungen vor:

„2. ‚nationale zuständige Behörde‘ eine nationale zuständige Behörde, die von den teilnehmenden Mitgliedstaaten im Einklang mit der Verordnung (EU) Nr. 575/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen[(4)] und der Richtlinie 2013/36/EU benannt worden ist;

3. ‚Kreditinstitut‘ ein Kreditinstitut im Sinne des Artikels 4 Absatz 1 Nummer 1 der Verordnung (EU) Nr. 575/2013;

9. ‚Einheitlicher Aufsichtsmechanismus‘ das Finanzaufsichtssystem, das sich aus der EZB und den nationalen zuständigen Behörden teilnehmender Mitgliedstaaten entsprechend der...

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