XY contra Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2021:710
Docket NumberC-18/20
Celex Number62020CJ0018
Date09 September 2021
CourtCourt of Justice (European Union)
62020CJ0018

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

9. September 2021 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes – Richtlinie 2013/32/EU – Art. 40 – Folgeantrag – Neue Elemente oder Erkenntnisse – Begriff – Umstände, die bereits vor dem rechtskräftigen Abschluss eines Verfahrens über einen früheren Antrag auf internationalen Schutz existierten – Grundsatz der Rechtskraft – Verschulden des Antragstellers“

In der Rechtssache C‑18/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 18. Dezember 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Januar 2020, in dem Verfahren

XY,

Beteiligter:

Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richter N. Wahl und F. Biltgen, der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin) und des Richters J. Passer,

Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll und C. Drexel als Bevollmächtigte,

der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und A. Pagáčová als Bevollmächtigte,

der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,

der französischen Regierung, vertreten durch E. de Moustier und D. Dubois als Bevollmächtigte,

der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und M. M. Tátrai als Bevollmächtigte,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande, H. Leupold und J. Tomkin als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. April 2021

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 40 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen XY und dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich) (im Folgenden: Bundesamt) über dessen Ablehnung eines von XY gestellten Antrags auf internationalen Schutz.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2005/85/EG

3

Die Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. 2005, L 326, S. 13) wurde durch die Richtlinie 2013/32 mit Wirkung vom 21. Juli 2015 aufgehoben. Art. 34 Abs. 2 der Richtlinie 2005/85 bestimmte:

„Die Mitgliedstaaten können im nationalen Recht Vorschriften für die erste Prüfung gemäß Artikel 32 festlegen. Diese Vorschriften können unter anderem

b)

eine Frist festsetzen, innerhalb deren der betreffende Antragsteller nach deren Kenntniserlangung die neuen Informationen vorzulegen hat;

…“

Richtlinie 2013/32

4

In den Erwägungsgründen 3, 18 und 36 der Richtlinie 2013/32 heißt es:

„(3)

Der Europäische Rat ist auf seiner Sondertagung vom 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere übereingekommen, auf ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem hinzuwirken, das sich auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung des Genfer Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 in der Fassung des New Yorker Protokolls vom 31. Januar 1967 … stützt, damit der Grundsatz der Nichtzurückweisung gewahrt bleibt und niemand dorthin zurückgeschickt wird, wo er Verfolgung ausgesetzt ist.

(18)

Es liegt im Interesse sowohl der Mitgliedstaaten als auch der Personen, die internationalen Schutz beantragen, dass über die Anträge auf internationalen Schutz so rasch wie möglich, unbeschadet der Durchführung einer angemessenen und vollständigen Prüfung der Anträge, entschieden wird.

(36)

Stellt der Antragsteller einen Folgeantrag, ohne neue Beweise oder Argumente vorzubringen, so wäre es unverhältnismäßig, die Mitgliedstaaten zur erneuten Durchführung des gesamten Prüfungsverfahrens zu verpflichten. In diesen Fällen sollten die Mitgliedstaaten einen Antrag gemäß dem Grundsatz der rechtskräftig entschiedenen Sache (res iudicata) als unzulässig abweisen können.“

5

Art. 5 dieser Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten können bei den Verfahren zur Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes günstigere Bestimmungen einführen oder beibehalten, soweit diese Bestimmungen mit dieser Richtlinie vereinbar sind.“

6

Art. 28 Abs. 1 und 2 der Richtlinie sieht vor:

„(1) Besteht Grund zu der Annahme, dass ein Antragsteller seinen Antrag stillschweigend zurückgenommen hat oder das Verfahren nicht weiter betreibt, so stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass die Asylbehörde entweder entscheidet, die Antragsprüfung einzustellen, oder, sofern die Asylbehörde den Antrag nach angemessener inhaltlicher Prüfung gemäß Artikel 4 der Richtlinie 2011/95/EU [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9)] als unbegründet ansieht, den Antrag abzulehnen.

Die Mitgliedstaaten können insbesondere dann davon ausgehen, dass der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz stillschweigend zurückgezogen hat oder das Verfahren nicht weiter betreibt, wenn er nachweislich

a)

den Aufforderungen zur Vorlage von für den Antrag wesentlichen Informationen gemäß Artikel 4 der Richtlinie [2011/95] oder einer Aufforderung zur persönlichen Anhörung gemäß den Artikeln 14 bis 17 dieser Richtlinie nicht nachgekommen ist, es sei denn, er weist innerhalb einer angemessenen Frist nach, dass sein Versäumnis auf Umstände zurückzuführen war, auf die er keinen Einfluss hatte;

b)

untergetaucht ist oder seinen Aufenthaltsort oder Ort seiner Ingewahrsamnahme ohne Genehmigung verlassen und nicht innerhalb einer angemessenen Frist die zuständige Behörde kontaktiert hat, oder seinen Melde- und anderen Mitteilungspflichten nicht innerhalb einer angemessenen Frist nachgekommen ist, es sei denn, der Antragsteller weist nach, dass dies auf Umstände zurückzuführen war, auf die er keinen Einfluss hatte.

Die Mitgliedstaaten können Fristen oder Leitlinien für die Anwendung dieser Bestimmungen festsetzen.

(2) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass ein Antragsteller, der sich nach Einstellung der Antragsprüfung gemäß Absatz 1 wieder bei der zuständigen Behörde meldet, berechtigt ist, um Wiedereröffnung des Verfahrens zu ersuchen oder einen neuen Antrag zu stellen, der nicht nach Maßgabe der Artikel 40 und 41 geprüft wird.

Die Mitgliedstaaten können eine Frist von mindestens neun Monaten vorschreiben, nach deren Ablauf das Verfahren nicht wieder eröffnet werden darf beziehungsweise der neue Antrag als Folgeantrag behandelt und nach Maßgabe der Artikel 40 und 41 geprüft werden kann. Die Mitgliedstaaten können vorschreiben, dass das Verfahren des Antragstellers nur ein Mal wieder eröffnet werden darf.

Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die betreffende Person nicht entgegen dem Grundsatz der Nicht-Zurückweisung abgeschoben wird.

Die Mitgliedstaaten können der Asylbehörde die Wiederaufnahme der Prüfung in dem Verfahrensabschnitt gestatten, in dem sie eingestellt wurde.“

7

In Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 heißt es:

„Die Mitgliedstaaten können einen Antrag auf internationalen Schutz nur dann als unzulässig betrachten, wenn

d)

es sich um einen Folgeantrag handelt, bei dem keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zu der Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie [2011/95] als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind, oder

…“

8

Art. 40 („Folgeanträge“) Abs. 1 bis 5 der Richtlinie 2013/32 sieht vor:

„(1) Wenn eine Person, die einen Antrag auf internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat gestellt hat, in demselben Mitgliedstaat weitere Angaben vorbringt oder einen Folgeantrag stellt, prüft dieser Mitgliedstaat diese weiteren Angaben oder die Elemente des Folgeantrags im Rahmen der Prüfung des früheren Antrags oder der Prüfung der Entscheidung, gegen die ein Rechtsbehelf eingelegt wurde, insoweit die zuständigen Behörden in diesem Rahmen alle Elemente, die den weiteren Angaben oder dem Folgeantrag zugrunde liegen, berücksichtigen können.

(2) Für die Zwecke der gemäß Artikel 33 Absatz 2 Buchstabe d zu treffenden Entscheidung über die Zulässigkeit eines Antrags auf internationalen Schutz wird ein Folgeantrag auf internationalen Schutz zunächst daraufhin geprüft, ob neue Elemente oder Erkenntnisse betreffend die Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie [2011/95] als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind.

(3) Wenn die erste Prüfung nach Absatz 2 ergibt, dass neue Elemente oder Erkenntnisse zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind, die erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen, dass der...

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