BJ, en qualité de curateur de M. M and OV, en qualité de curateur de M. M v Mrs M and Others.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2021:907
Docket NumberC-168/20
Date11 November 2021
Celex Number62020CJ0168
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

11. November 2021(*)

Inhaltsverzeichnis


Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Verordnung (EG) Nr. 1346/2000

Richtlinie 2004/38

Verordnung (EU) Nr. 492/2011

Recht des Vereinigten Königreichs

Regeln über die Auswirkung der Insolvenz auf Rentenansprüche aus anerkannten Altersversorgungssystemen

Regeln über die Wirkung der Insolvenz auf Rentenansprüche aus nicht anerkannten Altersversorgungssystemen

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

Zu den Vorlagefragen

Vorbemerkungen

Zum Vorliegen einer Beschränkung der Niederlassungsfreiheit

Zum Vorliegen einer Rechtfertigung der Beschränkung der Niederlassungsfreiheit

Zum Vorliegen eines zwingenden Grundes des Allgemeininteresses, der die Beschränkung der Niederlassungsfreiheit rechtfertigen kann

Zur Verhältnismäßigkeit der Beschränkung der Niederlassungsfreiheit

Kosten



„Vorlage zur Vorabentscheidung – Freizügigkeit – Unionsbürgerschaft – Art. 21 AEUV – Niederlassungsfreiheit – Art. 49 AEUV – Gleichbehandlung – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 24 Abs. 1 – Regelung des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland, wonach der grundsätzlich vollständige und automatische Ausschluss von Rentenansprüchen aus einem Altersversorgungssystem von der Insolvenzmasse voraussetzt, dass dieses Altersversorgungssystem steuerlich anerkannt ist – Geltung dieser Voraussetzung in einem Insolvenzverfahren über das Vermögen eines Unionsbürgers, der von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, um im Vereinigten Königreich dauerhaft als Selbständiger tätig zu sein – Rentenansprüche dieses Unionsbürgers aus einem Altersversorgungssystem, das in seinem Herkunftsmitgliedstaat errichtet und steuerlich anerkannt wurde – Kein Ausschluss dieser Rentenansprüche von der Insolvenzmasse – Anwendung einer Regelung über den Ausschluss von der Insolvenzmasse auf diese Rentenansprüche, die für den Insolvenzschuldner weitaus ungünstiger ist“

In der Rechtssache C‑168/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court of Justice (England & Wales), Chancery Division (business and property courts, insolvency and companies list) (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung Chancery [Handels‑, vermögens‑, insolvenz- und gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten], Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 30. März 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 22. April 2020, in dem Verfahren

BJ, als Insolvenzverwalter über das Vermögen von Herrn M,

OV, als Insolvenzverwalter über das Vermögen von Herrn M,

gegen

Frau M,

MH,

ILA,

Herrn M

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Präsidentin der Zweiten Kammer A. Prechal (Berichterstatterin) in Wahrnehmung der Aufgaben der Präsidentin der Dritten Kammer, der Richter J. Passer und F. Biltgen, der Richterin L. S. Rossi und des Richters N. Wahl,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– von BJ und OV als Insolvenzverwalter über das Vermögen von Herrn M, vertreten durch D. J. Rhee, QC, C. Harrison, Barrister, und I. Gill, Solicitor,

– von Frau M, MH, ILA und Herrn M, vertreten durch G. Peretz, QC, J. Briggs, Barrister, und S. Gilchrist, Solicitor,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Armati, L. Malferrari und M. Wilderspin als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 21 und 49 AEUV sowie der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, und Berichtigung ABl. 2004, L 229, S. 35).

2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen BJ und OV als Insolvenzverwalter über das Vermögen von Herrn M (im Folgenden: Insolvenzverwalter) auf der einen Seite und Frau M, MH, ILA und Herrn M (im Folgenden zusammen: Herr M u. a.) auf der anderen Seite über die Forderung der Insolvenzverwalter, Rentenansprüche von Herrn M, einem irischen Staatsangehörigen, aus einem in Irland errichteten und nach irischem Steuerrecht anerkannten Altersversorgungssystem in die Insolvenzmasse aufzunehmen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Verordnung (EG) Nr. 1346/2000

3 Art. 3 („Internationale Zuständigkeit“) der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (ABl. 2000, L 160, S. 1) sah in Abs. 1 vor:

„Für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Bei Gesellschaften und juristischen Personen wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen der Ort des satzungsmäßigen Sitzes ist.“

4 In Art. 4 („Anwendbares Recht“) dieser Verordnung hieß es:

„(1) Soweit diese Verordnung nichts anderes bestimmt, gilt für das Insolvenzverfahren und seine Wirkungen das Insolvenzrecht des Mitgliedstaats, in dem das Verfahren eröffnet wird, nachstehend ‚Staat der Verfahrenseröffnung‘ genannt.

(2) Das Recht des Staates der Verfahrenseröffnung regelt, unter welchen Voraussetzungen das Insolvenzverfahren eröffnet wird und wie es durchzuführen und zu beenden ist. Es regelt insbesondere:

b) welche Vermögenswerte zur Masse gehören und wie die nach der Verfahrenseröffnung vom Schuldner erworbenen Vermögenswerte zu behandeln sind;

…“

5 Die Verordnung Nr. 1346/2000 wurde durch die Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren (ABl. 2015, L 141, S. 19) aufgehoben und ersetzt. Angesichts des im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeitraums ist vorliegend jedoch nur die Verordnung Nr. 1346/2000 zeitlich anwendbar.

Richtlinie 2004/38

6 Art. 24 („Gleichbehandlung“) der Richtlinie 2004/38 bestimmt in Abs. 1:

„Vorbehaltlich spezifischer und ausdrücklich im Vertrag und im abgeleiteten Recht vorgesehener Bestimmungen genießt jeder Unionsbürger, der sich aufgrund dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, im Anwendungsbereich des Vertrags die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats. …“

Verordnung (EU) Nr. 492/2011

7 Im ersten Erwägungsgrund der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. 2011, L 141, S. 1) heißt es:

„Die Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft [(ABl. 1968, L 257, S. 2)] wurde mehrfach und erheblich geändert. Aus Gründen der Klarheit und der Übersichtlichkeit empfiehlt es sich, die genannte Verordnung zu kodifizieren.“

8 Art. 7 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 492/2011 lautet:

„(1) Ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, darf aufgrund seiner Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, insbesondere im Hinblick auf Entlohnung, Kündigung und, falls er arbeitslos geworden ist, im Hinblick auf berufliche Wiedereingliederung oder Wiedereinstellung, nicht anders behandelt werden als die inländischen Arbeitnehmer.

(2) Er genießt dort die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer.“

Recht des Vereinigten Königreichs

Regeln über die Auswirkung der Insolvenz auf Rentenansprüche aus anerkannten Altersversorgungssystemen

9 Der am 29. Mai 2000 in Kraft getretene Welfare Reform and Pensions Act 1999 (Wohlfahrtsreform- und Rentengesetz 1999, im Folgenden: WRPA 1999) bestimmt in Section 11:

„Wirkung der Insolvenz auf Rentenansprüche: anerkannte Systeme

(1) Wird über das Vermögen einer Person das Insolvenzverfahren eröffnet, so werden, wenn der Eröffnungsantrag nach Inkrafttreten dieser Bestimmung gestellt wurde, ihre sämtlichen Ansprüche aus einem anerkannten Altersversorgungssystem von der Insolvenzmasse ausgenommen.

(2) Im Sinne dieser Section bedeutet ‚anerkanntes Altersversorgungssystem‘

(a) ein Altersversorgungssystem, das gemäß Section 153 des Finance Act 2004 [Finanzgesetz von 2004] registriert ist;

(h) Altersversorgungssysteme jeglicher Art, die durch Verordnung des Ministers festgelegt werden können;

…“

10 Im Fall von anerkannten Altersversorgungssystemen kann der Insolvenzverwalter gemäß Section 15 des WRPA 1999 für „überhöht“ erachtete Rentenbeiträge gerichtlich zurückfordern.

11 Regulation 2(1)(c) der Occupational and Personal Pension Schemes (Bankruptcy) (nº 2) (Regulations) 2002 (Verordnung über betriebliche und persönliche Altersversorgungssysteme [Insolvenz] [Nr. 2] von 2002) (im Folgenden: Verordnung 2/2002) sieht vor:

„Erfasste Altersversorgungssysteme:

(1) Versorgungssysteme im Sinne von Section 11(2)(h) des [WRPA 1999] (Altersversorgungssysteme, die ‚anerkannte Altersversorgungssysteme‘ sind) sind Systeme,

(c) auf die Section 308A des [Income Tax (Earnings and Pensions) Act 2003] [Gesetz über die Einkommensteuer (Einkommen und Renten) von 2003] (Befreiung von Beiträgen zu einem ausländischen Altersversorgungssystem) Anwendung findet,

…“

12 Section 308A des Income Tax (Earnings and Pensions) Act 2003 (Gesetz über die Einkommensteuer [Einkommen und Renten] von 2003, im Folgenden: ITEPA) bestimmt:

„Befreiung von Beiträgen zu einem ausländischen Altersversorgungssystem

(1) Leistet ein Arbeitgeber im Rahmen eines qualifizierten ausländischen Altersversorgungssystems Beiträge für einen Arbeitnehmer, bei dem es sich um einen relevanten, bei...

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