M.S. and Others v Minister for Justice and Equality.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2020:1010
Date10 December 2020
Docket NumberC-616/19
Celex Number62019CJ0616
CourtCourt of Justice (European Union)

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

10. Dezember 2020(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Asylpolitik – Verfahren zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft – Richtlinie 2005/85/EG – Art. 25 Abs. 2 – Unzulässigkeitsgründe – Zurückweisung eines Antrags auf internationalen Schutz als unzulässig durch einen Mitgliedstaat aufgrund der früheren Gewährung subsidiären Schutzes an den Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat – Verordnung (EG) Nr. 343/2003Verordnung (EU) Nr. 604/2013

In der Rechtssache C‑616/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court (Hohes Gericht, Irland) mit Entscheidung vom 2. Juli 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 16. August 2019, in dem Verfahren

M. S.,

M. W.,

G. S.

gegen

Minister for Justice and Equality

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin), der Richterin C. Toader sowie der Richter M. Safjan und N. Jääskinen,

Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– von M. S., vertreten durch J. Brick, Advocate, J. Buckley, Barrister, und C. O’Dwyer, SC,

– von M. W., vertreten durch J. Watters, Solicitor, J. Buckley, Barrister, und C. O’Dwyer, SC,

– von G. S., vertreten durch D. Leonard, Barrister, M. Conlon, QC, und C. Ó Briain, Solicitor,

– von Irland, vertreten durch M. Browne, G. Hodge und A. Joyce als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Tomkin, A. Azéma und M. Condou-Durande als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 3. September 2020

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 25 der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. 2005, L 326, S. 13).

2 Es ergeht im Rahmen von drei Rechtsstreitigkeiten zwischen M. S., M. W. bzw. G. S. und dem Minister for Justice and Equality (Minister für Justiz und Gleichberechtigung, Irland) über dessen Entscheidung, ihre Anträge auf internationalen Schutz abzulehnen, weil sie subsidiären Schutz in einem anderen Mitgliedstaat genießen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2005/85

3 Die Erwägungsgründe 1, 6 und 22 der Richtlinie 2005/85 lauten:

„(1) Eine gemeinsame Asylpolitik einschließlich eines gemeinsamen europäischen Asylsystems ist wesentlicher Bestandteil des Ziels der Europäischen Union, schrittweise einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts aufzubauen, der denen offen steht, die wegen besonderer Umstände rechtmäßig um Schutz in der Gemeinschaft nachsuchen.

(6) Die Angleichung der Rechtsvorschriften über die Verfahren zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft sollte dazu beitragen, die Sekundärmigration von Asylbewerbern zwischen Mitgliedstaaten, soweit sie auf Unterschiede der rechtlichen Rahmen zurückzuführen ist, einzudämmen.

(22) Die Mitgliedstaaten sollten alle Anträge in der Sache prüfen, d. h. beurteilen, ob der betreffende Antragsteller gemäß der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes [(ABl. 2004, L 304, S. 12)] als Flüchtling anerkannt werden kann, sofern die vorliegende Richtlinie nichts anderes vorsieht, insbesondere dann, wenn aus gutem Grund davon ausgegangen werden kann, dass ein anderer Staat den Antrag prüfen oder für einen ausreichenden Schutz sorgen würde. Die Mitgliedstaaten sollten insbesondere nicht verpflichtet sein, einen Asylantrag in der Sache zu prüfen, wenn der erste Asylstaat dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat oder ihm anderweitig ausreichenden Schutz gewährt und die Rückübernahme des Antragstellers in diesen Staat gewährleistet ist.“

4 Nach ihrem Art. 1 legt die Richtlinie 2005/85 Mindestnormen für die Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft fest.

5 In Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie heißt es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

k) ‚Verbleib im Mitgliedstaat‘ den Verbleib im Hoheitsgebiet – einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen – des Mitgliedstaats, in dem der Asylantrag gestellt wurde oder geprüft wird.“

6 Art. 25 („Unzulässige Anträge“) der Richtlinie bestimmt:

„(1) Zusätzlich zu den Fällen, in denen ein Asylantrag nach Maßgabe der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 [des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. 2003, L 50, S. 1)] nicht geprüft wird, müssen die Mitgliedstaaten nicht prüfen, ob der Antragsteller als Flüchtling im Sinne der … Richtlinie [2004/83] anzuerkennen ist, wenn ein Antrag gemäß dem vorliegenden Artikel als unzulässig betrachtet wird.

(2) Die Mitgliedstaaten können einen Asylantrag gemäß diesem Artikel als unzulässig betrachten, wenn

a) ein anderer Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat;

b) ein Staat, der kein Mitgliedstaat ist, als erster Asylstaat des Asylbewerbers gemäß Artikel 26 betrachtet wird;

c) ein Staat, der kein Mitgliedstaat ist, als für den Asylbewerber sicherer Drittstaat gemäß Artikel 27 betrachtet wird;

d) der Asylbewerber aus einem anderen Grund weiterhin in dem betreffenden Mitgliedstaat verbleiben darf und ihm infolgedessen ein Status zuerkannt worden ist, der den Rechten und Vergünstigungen aufgrund der Flüchtlingseigenschaft nach Maßgabe der Richtlinie [2004/83] entspricht;

e) der Asylbewerber aus anderen Gründen, die ihn vor einer Zurückweisung schützen, bis zur Entscheidung in einem Verfahren über die Zuerkennung eines Status nach Buchstabe d im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats verbleiben darf;

…“

Richtlinie 2013/32/EU

7 Durch die Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60) wurde die Richtlinie 2005/85 neu gefasst.

8 Der 58. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/32 lautet:

„Nach den Artikeln 1, 2 und 4a Absatz 1 des dem EUV und dem AEUV beigefügten Protokolls Nr. 21 über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und unbeschadet des Artikels 4 dieses Protokolls beteiligen sich diese Mitgliedstaaten nicht an der Annahme dieser Richtlinie und sind weder durch diese Richtlinie gebunden noch zu ihrer Anwendung verpflichtet.“

9 Nach Art. 1 werden mit dieser Richtlinie gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes gemäß der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9) eingeführt.

10 Art. 33 („Unzulässige Anträge“) der Richtlinie 2013/32 bestimmt:

„(1) Zusätzlich zu den Fällen, in denen nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31)] ein Antrag nicht geprüft wird, müssen die Mitgliedstaaten nicht prüfen, ob dem Antragsteller der internationale Schutz im Sinne der Richtlinie [2011/95] zuzuerkennen ist, wenn ein Antrag auf der Grundlage des vorliegenden Artikels als unzulässig betrachtet wird.

(2) Die Mitgliedstaaten können einen Antrag auf internationalen Schutz nur dann als unzulässig betrachten, wenn

a) ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz gewährt hat;

…“

11 Art. 53 („Aufhebung“) Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 sieht vor:

„Die Richtlinie [2005/85] wird im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten, die durch diese Richtlinie gebunden sind, unbeschadet der Verpflichtungen dieser Mitgliedstaaten hinsichtlich der in Anhang II Teil B genannten Frist für die...

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