LW v Bundesrepublik Deutschland.

JurisdictionEuropean Union
ECLIECLI:EU:C:2021:898
Date09 November 2021
Docket NumberC-91/20
Celex Number62020CJ0091
CourtCourt of Justice (European Union)
62020CJ0091

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

9. November 2021 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Politik im Bereich Asyl und subsidiärer Schutz – Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz – Richtlinie 2011/95/EU – Art. 3 und 23 – Günstigere Normen, die von den Mitgliedstaaten beibehalten oder erlassen werden können, um den Anspruch auf Asyl oder subsidiären Schutz auf die Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, zu erstrecken – Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft kraft Ableitung von einem Elternteil an sein minderjähriges Kind – Wahrung des Familienverbands – Wohl des Kindes“

In der Rechtssache C‑91/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 18. Dezember 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Februar 2020, in dem Verfahren

LW

gegen

Bundesrepublik Deutschland

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan, N. Jääskinen und J. Passer, der Richter M. Ilešič (Berichterstatter), J.‑C. Bonichot, A. Kumin und N. Wahl,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. Februar 2021,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von LW, vertreten durch Rechtsanwalt F. Schleicher,

der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,

der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs und M. Van Regemorter als Bevollmächtigte,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Wils und A. Azema als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. Mai 2021

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 und Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen LW und der Bundesrepublik Deutschland wegen eines Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Deutschland) (im Folgenden: Bundesamt), mit dem ihr das Asylrecht versagt wurde.

Rechtlicher Rahmen

Völkerrecht

3

In Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) (im Folgenden: Genfer Konvention) heißt es:

„Im Sinne dieses Abkommens findet der Ausdruck ‚Flüchtling‘ auf jede Person Anwendung:

2. die … aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als Staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.

Für den Fall, dass eine Person mehr als eine Staatsangehörigkeit hat, bezieht sich der Ausdruck ‚das Land, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt‘ auf jedes der Länder, dessen Staatsangehörigkeit diese Person hat. Als des Schutzes des Landes, dessen Staatsangehörigkeit sie hat, beraubt, gilt nicht eine Person, die ohne einen stichhaltigen, auf eine begründete Befürchtung gestützten Grund den Schutz eines der Länder nicht in Anspruch genommen hat, deren Staatsangehörigkeit sie besitzt.“

Unionsrecht

4

Mit der Richtlinie 2011/95 wurde die „Neufassung“ der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2004, L 304, S. 12) vorgenommen.

5

In den Erwägungsgründen 4, 12, 14, 16, 18, 19, 36 und 38 der Richtlinie 2011/95 heißt es:

„(4)

Die Genfer [Konvention] und das Protokoll stellen einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen dar.

(12)

Das wesentliche Ziel dieser Richtlinie besteht darin, einerseits zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich Schutz benötigen, und andererseits sicherzustellen, dass diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird.

(14)

Die Mitgliedstaaten sollten die Befugnis haben, günstigere Regelungen als die in dieser Richtlinie vorgesehenen Normen für Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, die um internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat ersuchen, einzuführen oder beizubehalten, wenn ein solcher Antrag als mit der Begründung gestellt verstanden wird, dass der Betreffende entweder ein Flüchtling im Sinne von Artikel 1 Abschnitt A der Genfer Konvention oder eine Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz ist.

(16)

Diese Richtlinie achtet die Grundrechte und befolgt insbesondere die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannten Grundsätze. Sie zielt insbesondere darauf ab, die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde und des Asylrechts für Asylsuchende und die sie begleitenden Familienangehörigen sicherzustellen sowie die Anwendung der Artikel 1, 7, 11, 14, 15, 16, 18, 21, 24, 34 und 35 der Charta zu fördern, und sollte daher entsprechend umgesetzt werden.

(18)

Bei der Umsetzung dieser Richtlinie sollten die Mitgliedstaaten im Einklang mit dem [am 20. November 1989 in New York geschlossenen] Übereinkommen der Vereinten Nationen … über die Rechte des Kindes [(United Nations Treaty Series, Bd. 1577, S. 3)] vorrangig das ‚Wohl des Kindes‘ berücksichtigen. Bei der Bewertung der Frage, was dem Wohl des Kindes dient, sollten die Mitgliedstaaten insbesondere dem Grundsatz des Familienverbands … Rechnung tragen.

(19)

Der Begriff ‚Familienangehörige‘ muss ausgeweitet werden, wobei … das Wohl des Kindes besonders zu berücksichtigen ist.

(36)

Familienangehörige sind aufgrund der alleinigen Tatsache, dass sie mit dem Flüchtling verwandt sind, in der Regel gefährdet, in einer Art und Weise verfolgt zu werden, dass ein Grund für die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gegeben sein kann.

(38)

Bei der Gewährung der Ansprüche auf die Leistungen gemäß dieser Richtlinie sollten die Mitgliedstaaten dem Wohl des Kindes sowie den besonderen Umständen der Abhängigkeit der nahen Angehörigen, die sich bereits in dem Mitgliedstaat aufhalten und die nicht Familienmitglieder der Person sind, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, von dieser Person Rechnung tragen. Unter außergewöhnlichen Umständen, wenn es sich bei dem nahen Angehörigen der Person, die Anspruch auf internationalen Schutz hat, um eine verheiratete minderjährige Person handelt, die nicht von ihrem Ehepartner begleitet wird, kann es als dem Wohl der minderjährigen Person dienlich angesehen werden, wenn diese in ihrer ursprünglichen Familie lebt.“

6

Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2011/95 sieht vor:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

d)

‚Flüchtling‘ einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder einen Staatenlosen, der sich aus denselben vorgenannten Gründen außerhalb des Landes seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts befindet und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht dorthin zurückkehren will und auf den Artikel 12 keine Anwendung findet;

j)

‚Familienangehörige‘ die folgenden Mitglieder der Familie der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die sich im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhalten, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat:

der Ehegatte der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, oder ihr nicht verheirateter Partner, der mit ihr eine dauerhafte Beziehung führt …;

die minderjährigen Kinder des unter dem ersten Gedankenstrich genannten Paares oder der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, sofern diese nicht verheiratet sind, gleichgültig, ob es sich nach dem nationalen Recht um eheliche oder außerehelich geborene oder adoptierte Kinder handelt;

der Vater, die Mutter oder ein anderer Erwachsener, der nach dem Recht oder der Praxis des betreffenden...

To continue reading

Request your trial
11 practice notes
  • Conclusions de l'avocat général Mme J. Kokott, présentées le 20 avril 2023.
    • European Union
    • Court of Justice (European Union)
    • 20 April 2023
    ...EU:C:2018:801, punti da 69 a 71), e del 9 novembre 2021, Bundesrepublik Deutschland (Mantenimento dell’unità del nucleo familiare) (C‑91/20, EU:C:2021:898, punti da 38 a 40 e c53d8fcb740a703|featureHash=ICA2NVfgjqrux|vcv=2|rdnt=1|uxrgce=1|bp=3|cuc=m097nmfl|mel=100000|mb=null|dpvc=1|iub=null......
  • Conclusiones del Abogado General Sr. J. Richard de la Tour, presentadas el 9 de noviembre de 2023.
    • European Union
    • Court of Justice (European Union)
    • 9 November 2023
    ...della Corte EDU del 25 febbraio 2020, A.S.N. e altri c. Paesi Bassi (CE:ECHR:2020:0225JUD006837717, § 107 e giurisprudenza ivi citata). 58 C‑91/20, 59 V. punti 39 e 40 di tale sentenza nonché giurisprudenza ivi citata. La Corte ha ricordato che sono vietate, in particolare, norme dirette a ......
  • Conclusiones del Abogado General Sr. J. Richard de la Tour, presentadas el 24 de marzo de 2022.
    • European Union
    • Court of Justice (European Union)
    • 24 March 2022
    ...preminente». 25 V., in tal senso, sentenza del 9 novembre 2021, Bundesrepublik Deutschland (Mantenimento dell’unità del nucleo familiare) (C‑91/20, EU:C:2021:898, punto 26 Potrebbe trattarsi di riconoscimento in via principale o a titolo derivato, in applicazione dei principi elaborati dall......
  • Opinion of Advocate General Collins delivered on 13 July 2023.
    • European Union
    • Court of Justice (European Union)
    • 13 July 2023
    ...recitals 3, 4, 14 and 22 to 24 of Directive 2011/95. 14 Judgment of 9 November 2021, Bundesrepublik Deutschland (Maintaining family unity) (C‑91/20, EU:C:2021:898, paragraph 56 and the case-law 15 Recital 16 of Directive 2011/95 and judgment of 5 September 2012, Y and Z (C‑71/11 and C‑99/11......
  • Request a trial to view additional results
9 cases
  • Conclusiones del Abogado General Sr. J. Richard de la Tour, presentadas el 24 de marzo de 2022.
    • European Union
    • Court of Justice (European Union)
    • 24 March 2022
    ...preminente». 25 V., in tal senso, sentenza del 9 novembre 2021, Bundesrepublik Deutschland (Mantenimento dell’unità del nucleo familiare) (C‑91/20, EU:C:2021:898, punto 26 Potrebbe trattarsi di riconoscimento in via principale o a titolo derivato, in applicazione dei principi elaborati dall......
  • XXXX v Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides.
    • European Union
    • Court of Justice (European Union)
    • 22 February 2022
    ...internazionale [v., in tal senso, sentenza del 9 novembre 2021, Bundesrepublik Deutschland (Mantenimento dell’unità del nucleo familiare), C‑91/20, EU:C:2021:898, punto 36 e giurisprudenza ivi citata]. La concessione di detti benefici, che sono previsti agli articoli da 24 a 35 della dirett......
  • Opinion of Advocate General Richard de la Tour delivered on 20 April 2023.
    • European Union
    • Court of Justice (European Union)
    • 20 April 2023
    ...d’être persécuté et la protection contre des actes de persécution sont des conditions intrinsèquement liées (point 56 de cet arrêt). 60 C‑91/20, EU:C:2021:384, point 61 Je rappelle que, à l’image de l’article 1er de la convention de Genève, la directive 2011/95 intègre le principe de la sub......
  • Conclusions de l'avocat général Mme J. Kokott, présentées le 20 avril 2023.
    • European Union
    • Court of Justice (European Union)
    • 20 April 2023
    ...EU:C:2018:801, punti da 69 a 71), e del 9 novembre 2021, Bundesrepublik Deutschland (Mantenimento dell’unità del nucleo familiare) (C‑91/20, EU:C:2021:898, punti da 38 a 40 e c53d8fcb740a703|featureHash=ICA2NVfgjqrux|vcv=2|rdnt=1|uxrgce=1|bp=3|cuc=m097nmfl|mel=100000|mb=null|dpvc=1|iub=null......
  • Request a trial to view additional results

VLEX uses login cookies to provide you with a better browsing experience. If you click on 'Accept' or continue browsing this site we consider that you accept our cookie policy. ACCEPT